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RICHARD MÜLLER-FREIENFELS
erhaben gelten können, aber selbst diesen haftet zuweilen etwas Unechtes,
Theatralisches an. Man spürt bei Schiller, daß er an die mystische Be-
gnadung seiner Johanna, bei Wagner, daß er an seine Götter doch nicht
ganz glaubte. Das Erhabene ist nicht ganz von einem mythisch-religiösen
Glauben zu trennen; nur dann wirkt die dargestellte Überwirklichkeit
echt, wenn sie getragen ist von wahrhaftem Glauben daran, beim Schöpfer
wie beim Nacherlebenden.
Jedenfalls gibt es, so fassen wir zusammen, einen durchaus eigen-
artigen Stil des Erhabenen, der einer besonderen Geistigkeit er-
wächst, die die Überwirklichkeit, die sie darstellen will, wesentlich quanti-
tativ, räumlich oder dynamisch, begreift. Weil ein Kunstwerk quantitativ
„erhaben", d. h. hinausgehoben über normales Maß ist, wirkt es erhebend;
es erhebt den sich in die Werke einfühlenden Beschauer in eine quantitative
Überwirklichkeit. Besonders in Frühzeiten ist der erhabene Stil fast der
einzige, aber auch auf Spätstufen der Kultur fehlt das Streben nach dem
Erhabenen nicht. Am sinnfälligsten erscheint das Überwirkliche in seiner
quantitativen Steigerung; es gehört schon eine verfeinerte Geistigkeit dazu,
auch andere, mehr qualitative Überwirklichkeit gestalten zu können, Er-
habenes auch im äußerlich nicht sehr Großen durchschimmern zu lassen.
So haben etwa Meuniers Grubenarbeiter, Millets Bauern oder, um ein
Beispiel aus der neueren Dichtung zu bringen, etwa Wiecherts Jürgen
Doscosil bei aller äußerlich „niedrigen" Stellung doch etwas Erhabenes.
Hinter den einzelnen Gestalten ersteht eine geistige Sphäre überwirklicher
Art, jenseits der äußeren Kleinheit eine moralische Größe, die die empfan-
gende Seele hinaushebt über die alltägliche Wirklichkeit. Alle echte Er-
habenheit ist daher auch dort, wo sie keine an sich religiösen Stoffe be-
handelt, doch der Religion verwandt, deren Wesen darin beruht, daß sie
den Menschen aus der Wirklichkeit in eine geistige Überwirklichkeit er-
hebt, für die alle „wirkliche" Größe nur symbolisch ist.
IV. Die Überwirklichkeit des „Schönen"
Vielleicht wird man für die auf „erhabene" Wirkungen ausgehende
Kunst zugeben, daß sie eine Überwirklichkeit gestalte; aber man wird ein-
wenden, für die auf das „Schön e" gerichtete Kunst — und das sei weit-
aus der größte Teil der Kunst — gelte das nicht. Indessen gedenken wir
nachzuweisen, daß auch die in der Kunst gestaltete Schönheit nicht
einfach Wirklichkeit, sondern ebenfalls eine Überwirklichkeit, wenn auch
ganz anderer, nicht quantitativer, sondern qualitativer Art darstellt.
Wir unterscheiden allerdings das „Schöne im prägnanten
Sinne" von dem bloß sinnlich-Angenehmen, dem schlicht Wohlgefälli-
gen, dem bloß „Hübschen" oder „Reizvollen", was alles als Nebenwirkung
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS
erhaben gelten können, aber selbst diesen haftet zuweilen etwas Unechtes,
Theatralisches an. Man spürt bei Schiller, daß er an die mystische Be-
gnadung seiner Johanna, bei Wagner, daß er an seine Götter doch nicht
ganz glaubte. Das Erhabene ist nicht ganz von einem mythisch-religiösen
Glauben zu trennen; nur dann wirkt die dargestellte Überwirklichkeit
echt, wenn sie getragen ist von wahrhaftem Glauben daran, beim Schöpfer
wie beim Nacherlebenden.
Jedenfalls gibt es, so fassen wir zusammen, einen durchaus eigen-
artigen Stil des Erhabenen, der einer besonderen Geistigkeit er-
wächst, die die Überwirklichkeit, die sie darstellen will, wesentlich quanti-
tativ, räumlich oder dynamisch, begreift. Weil ein Kunstwerk quantitativ
„erhaben", d. h. hinausgehoben über normales Maß ist, wirkt es erhebend;
es erhebt den sich in die Werke einfühlenden Beschauer in eine quantitative
Überwirklichkeit. Besonders in Frühzeiten ist der erhabene Stil fast der
einzige, aber auch auf Spätstufen der Kultur fehlt das Streben nach dem
Erhabenen nicht. Am sinnfälligsten erscheint das Überwirkliche in seiner
quantitativen Steigerung; es gehört schon eine verfeinerte Geistigkeit dazu,
auch andere, mehr qualitative Überwirklichkeit gestalten zu können, Er-
habenes auch im äußerlich nicht sehr Großen durchschimmern zu lassen.
So haben etwa Meuniers Grubenarbeiter, Millets Bauern oder, um ein
Beispiel aus der neueren Dichtung zu bringen, etwa Wiecherts Jürgen
Doscosil bei aller äußerlich „niedrigen" Stellung doch etwas Erhabenes.
Hinter den einzelnen Gestalten ersteht eine geistige Sphäre überwirklicher
Art, jenseits der äußeren Kleinheit eine moralische Größe, die die empfan-
gende Seele hinaushebt über die alltägliche Wirklichkeit. Alle echte Er-
habenheit ist daher auch dort, wo sie keine an sich religiösen Stoffe be-
handelt, doch der Religion verwandt, deren Wesen darin beruht, daß sie
den Menschen aus der Wirklichkeit in eine geistige Überwirklichkeit er-
hebt, für die alle „wirkliche" Größe nur symbolisch ist.
IV. Die Überwirklichkeit des „Schönen"
Vielleicht wird man für die auf „erhabene" Wirkungen ausgehende
Kunst zugeben, daß sie eine Überwirklichkeit gestalte; aber man wird ein-
wenden, für die auf das „Schön e" gerichtete Kunst — und das sei weit-
aus der größte Teil der Kunst — gelte das nicht. Indessen gedenken wir
nachzuweisen, daß auch die in der Kunst gestaltete Schönheit nicht
einfach Wirklichkeit, sondern ebenfalls eine Überwirklichkeit, wenn auch
ganz anderer, nicht quantitativer, sondern qualitativer Art darstellt.
Wir unterscheiden allerdings das „Schöne im prägnanten
Sinne" von dem bloß sinnlich-Angenehmen, dem schlicht Wohlgefälli-
gen, dem bloß „Hübschen" oder „Reizvollen", was alles als Nebenwirkung