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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Müller-Freienfels, Richard: Das Überwirkliche in der Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0165
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DAS ÜBERWIRKLICHE IN DER KUNST

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flusses" muß vor allem von der Seite her angepackt werden, wie über-
haupt Einflüsse möglich waren, und diese Frage ist nur so zu beant-
worten, daß man für jeden Einfluß eine ihm entsprechende Disposition
annehmen muß, die Voraussetzung für den Einfluß war und die in einem
allgemeinmenschlichen Apriori des Geistes zu suchen ist. Wo ein Einfluß
wirksam werden kann, ist eine Disposition dafür Voraussetzung, und eine
solche besteht zweifellos, insofern der subjektive Geist gewisse allgemeine
Züge in allen Menschen zeigt.

Unser Thema probandum war, daß in der Kunst wie in der Gesamt-
kultur der Geist als eine ganzheitliche, wenn auch völkisch und historisch
verbesonderte Macht eine Überwirklichkeit zu schaffen strebt, daß diese
Überwirklichkeit jedoch, wiederum auf Grund der völkischen und histori-
schen Verhältnisse, verschiedene Urformen entwickelt, die in den Haupt-
zügen mit geringen Abwandlungen doch in verschiedenen Völkern und
in verschiedenen Epochen wiederkehren.

Je nach den besonderen Voraussetzungen trägt die von uns in der
künstlerischen Darstellung nachgewiesene Überwirklichkeit mehr den
Charakter des Erhabenen, des Schönen, auch des Anmutigen und Komi-
schen, aber innerhalb jedes Kulturkreises gibt es Epochen, die wesentlich
nach dem Erhabenen oder Schönen oder einer der andern Kategorien ihre
Überwirklichkeit ausbauen.

So bestechend das biologische Schema der Spenglerschen Phasen ist,
es wird den Tatsachen nur zum Teil gerecht. Es gibt in der Kultur-
geschichte gewiß Tatsachen, die sich mindestens nach Analogie mit den
Altersphasen verstehen lassen, es besteht aber daneben zu recht, daß sich
Kulturen auch verjüngen können, und daß nach zeitweiliger Verdrängung
die apriorischen Urformen des Geistes wieder sich Geltung schaffen. Je
nach völkischen oder historischen Sonderverhältnissen tritt zeitweilig das
Streben nach dem Erhabenen, dem Schönen, dem Anmutigen zurück, es
kann sogar ein außerkünstlerisch-intellektualistisches Gestalten sich vor-
drängen; aufs Ganze gesehen jedoch finden sich in jedem größeren Kultur-
oder Kunstkreis fast alle Formen des Überwirklichen nebeneinander, weil
sie alle angelegt sind im Apriori des Geistes. Der einzelne Schaffende, ja
ganze Gruppen von Schaffenden mögen einseitig nur einen Sondertypus
des Überwirklichen ausbilden: in der Gesamtheit der Kunst jedes Kultur-
kreises erstehen, einander ergänzend, alle Sonderformen des Kunst-
wollens, d. h. der ästhetisch-geistigen Überwindung der Wirklichkeit, der
Schaffung des Überwirklichen in seinen verschiedenen Formen. Und ge-
rade in dieser Ergänzung verschiedener Typen des Überwirklichen schließt
sich die Kunst in ihrer Gesamtheit als einheitliche Ganzheit zusammen,
die nicht willkürlich „gemacht" wird oder „zufällig" entsteht, sondern als
notwendiger Ausdruck der Kultur erwächst.
 
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