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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Damian, Erwin: Rilkes Gestaltung der Landschaft, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0171
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RILKES GESTALTUNG DER LANDSCHAFT

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an, sondern auf die Melodie des Ganzen, während Gedichte Kellers oder
Dauthendeys in ihrer ganzen farbigen Fülle nicht nach ihrem Rhythmus,
sondern nach ihrem dinglichen Gehalt erlebt werden wollen. Bei Rilke
haben wir es auf dieser Anfangsstufe mit der zweiten, naiven Art zu tun

— die Gegenstände sind ihm wichtiger als das aus der Seele sich lösende
subjektive Gefühl. So kommt es sehr oft bei ihm zu einem Zwiespalt zwi-
schen Auge und Ohr — der musikalische Rhythmus bricht sich an der
spröden, kantigen Sachlichkeit der Gegenstände. Die Landschaft, die
später rhythmisch-musikalisch in ihrer Ganzheit erlebt und gestaltet wird,
ist hier noch Summe ihrer begrenzten Teile, höchstens künstlich ineinander-
gefügtes Mosaik. Das subjektive Gefühl läuft nebenher als „Stimmung"

— „Erinnerung"—oder „Ahnung". Die Einheit des seelischen Zustandes,
die sich in der ungebrochen ausströmenden Sprachmelodie äußert, wird
sehr oft von charakterisierenden Ausdrücken gehemmt und dadurch aus-
einandergerissen. Diesen in sich zerrissenen Strophen stehen aber auch
hier schon andere, ganz aus der Einheit von Gefühl und Sprache lebende
Verse gegenüber (I, 43; I, 59).

Wie wir aus „Malte" und dem Buch Carl Siebers über den jungen
Rilke wissen, war schon im Knaben ein dunkler, zwingender Drang nach
Verkleidung lebendig. Man kann diesen Zug seines Wesens bis in die
reifsten Werke und Zeugnisse verfolgen. In der frühen Landschaftsschil-
derung äußert sich die Lust an der Verwandlung in den häufigen Personi-
fizierungen von Naturdingen und Gefühlen. Die Landschaft wird auf
diese Weise in einen Handlungsraum verwandelt, in eine Bühne, auf der
sich geheimnisvolle Szenen und Begebenheiten abspielen. Aber alles voll-
zieht sich noch draußen im objektiven Raum, nicht in der Seele selbst,
und der Dichter ist noch nicht der wissende Regisseur seines inneren
Szenariums, sondern immer noch der staunende Zuschauer eines, wenn
auch seelisch bedingten, Geschehens. Erst in „Advent" und „Traum-
gekrönt" wird der landschaftliche Handlungsraum nach innen verlegt.
Nur die Art, wie sich in manchen Gedichten Seelenraum und Landschafts-
raum durchdringen, deutet bereits auf die kommenden Entwicklungsstufen
vor. Die Schwäne des Märchens (I, 90) werden noch mit den weißen,
schimmernden Wolken über der Landschaft verglichen, die völlige Gleich-
setzung vom inneren Bild und äußerem Gegenstand vollzieht sich erst
später. Noch deutet die Seele ein landschaftliches Geschehen auf ihre
Weise, der objektive Sachverhalt löst in verschiedenen Individuen ver-
schiedene seelische Regungen aus, wie bei den zwei Mönchen am Meer
(I, 77) der Sonnenuntergang. Subjekt und Objekt, Gefühlsregung und
äußeres Geschehen sind noch nicht in einer einzigen, Äußeres und Inneres
umschließenden seelischen Bewegung vereint.

Erst in „Traumgekrönt" rückt die Mittelbarkeit des sinnlichen Er-
 
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