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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Havenstein, Martin: Wahrheit und Irrtum in Schillers Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0252
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„kaum mehr möglich" erscheint und eigentlich sogar unmöglich erschei-
nen müßte. Alle Fehler und Mißgriffe, die Schillers von geschichtlicher
Betrachtungsweise noch unberührtes Denken auch in dieser Abhandlung
verschuldet, sie liegen heute für den Unterrichteten am hellen Tage, und
es erübrigt sich, von dieser Seite aus seine Gedanken nochmals kritisch
zu untersuchen. Aber er begeht darin auch einen Irrtum anderer Art, einen
fundamentalen, sachlichen, ästhetisch-psychologischen Irrtum, der, wenn
ich recht sehe, zwar schon oftmals bemerkt, aber noch nie mit voller Klar-
heit erkannt und dargelegt worden ist, wiewohl er das ganze Gedanken-
gebäude der geistvollen Abhandlung wie mit einem entstellenden Anstrich
überzieht und ihm jene Fragwürdigkeit verleiht, von der Korff redet.
Diesen verfälschenden Anstrich aufzuzeigen und hinter ihm das Bleibende
und Gültige an Schillers Unterscheidung sichtbar zu machen, ist die Auf-
gabe dieser Zeilen.

Es gibt die Gegensätzlichkeit der Typen, die Schiller meint und mit
der ganzen Kunst seines dialektischen Denkens in Begriffe zu fassen sucht.
Er hat sie als erster erschaut, indem er sich an Goethe maß, und seitdem
steht sie als Gegebenheit vor jedem denkenden Auge, unsicher nur in den
verschwimmenden Umrissen und ihrer begrifflichen oder sprachlichen Fixie-
rung. Auf welche Seite des Gegensatzes ein Dichter gehört, das ist oft
leicht zu entscheiden, und wenn wir in manchen Fällen schwanken, so
beweist das nicht, daß Schillers Typenscheidung die existenzielle Grund-
lage fehlt, sondern nur, daß sie, wie alle Scheidungen dieser Art, in der
flutenden Wirklichkeit des geistigen Lebens einer Art Wechselstrom zwi-
schen zwei Polen entspricht, der Mischungen und Übergänge ermöglicht,
die sich einer einwandfreien begrifflichen Einordnung entziehen.

Schiller selbst war freilich diese Grenze, die unserem typisierenden
Denken gesetzt ist, noch nicht sichtbar. Er dachte in scharfen Gegensätzen
und fällt daher bei seiner Scheidung der Geister manches für unser Emp-
finden sehr anfechtbare Urteil: wir werden z. B. Shakespeare und Geliert
so wenig ohne starke Vorbehalte zu den naiven Dichtern rechnen wie
Horaz, Milton und Cervantes zu den sentimentalischen. In einem Falle
aber stieß auch Schiller, gleichsam im Nebel, auf die für uns heute im
klaren Lichte liegende Schwierigkeit: Goethe erschien ihm als Widerspiel
seines eigenen Dichtertums begreiflicherweise naiv, und doch hatte Goethe
den Werther und Tasso geschaffen, Gestalten also, die einen unzweifel-
haft „sentimentalischen Charakter" haben, die aber Schiller eben darum,
das Rätsel nach seiner Art dialektisch lösend, nicht als echte, wesenhafte
Ausgeburten des Goethischen „Dichtergeistes" ansah, sondern nur als
„sentimentalische Stoffe", die darzustellen dieser naive Dichtergeist sich
seltsamerweise „zur Aufgabe machte".
 
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