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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Hartlaub, Gustav Friedrich: Der Paris-Mythos bei Giorgione: eine Vermutung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0267
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BEMERKUNGEN

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auch in der gesamten italienischen Graphik der Renaissance nachweisen lassen; ein
Sondergebiet haben sie überdies in der Kunst des Porträts mit seinen Kostümierun-
gen, Hintergründen und Attributen'5). Vor allen Dingen sind sie bei Giorgione
und bei denen nachweisbar, die zu seinem Kreise zählten. Natürlich hängt der Ge-
schmack an Allusionen mit der allgemeinen Vorliebe des Zeitalters für Symbole und
Allegorien zusammen4), die die Künstler gern naivwörtlich nahmen und in traum-
artiger Weise weiterspannen; auch die Hieroglyphenmode5), welche gewisse Bilder-
schriftzeichen der Ägypter rebusartig, anfänglich gewissermaßen als Mysterien-
geheimnisse, lesen wollte, gehört hierher. Wenn wirklich die Kühe, die wieder-
käuenden, ruminierenden, am Ufer hier nicht einfach nur die Hirtenlandschaft kenn-
zeichnen, sondern, wie Swarzenski, Schwarzweiler und Richter meinen, mit einer
symbolischen Verallgemeinerung des Mythos zusammenhängen, dann läßt sich ver-
muten, daß auch die übrige Darstellung des Frankfurter Bildes nicht ein-
fach eine Illustration gibt, sondern daß z. B. in der hetärischen Pflegemutter selbst,
in der Überschwemmung (Sumpf), welche hier Leben statt Tod bringt, noch gewisse
Vorstellungen mitschwingen, die gleichfalls auf jene allgemeinen Naturpotenzen
gehen. Der „universelle Theismu su, die theosophisch6)-synkretistische
Geheimreligion, welche wir bei den meisten Humanisten der Renaissance herausfüh-
len, hat einen merkwürdigen Instinkt gehabt für das Innerlich-Identische vieler Völ-
kermythen7), für die durchschimmernden gemeinsamen Urmotive; es gründete sich
diese Einsicht natürlich nicht auf eine nur wissenschaftlich interessierte „verglei-
chende Mythenkunde" in unserem Sinne, sondern — typisch theosophisch — auf den
schwärmerischen Traum von einer gemeinsamen Urreligion der Menschheit. Wenn
das Thema der beiden Zwillinge Romulus und Remus behandelt wurde, so mochte
die Erinnerung an andere mythische Zwillinge beschworen werden, — etwa die
Kinder der Latona — damit vielleicht auch (wie es von den Latona-Zwillingen
bekannt ist) an den magischen Geheimsinn der Zwillingspolarität in der Natur über-
haupt, welchen die A 1 c h e m i e ihrer Verwandlungslehre zugrundelegte, die in
ihrer Mythenauslegung ja gerade das Wasser und den Sumpf8) „naturphiloso-

3) Typisches Beispiel die bekannten Bildnisse des Humanisten Cuspinian und sei-
ner Gemahlin von Lucas Cranach, beide voll Anspielungen auf die astrologische
Temperamentsbestimmung der Porträtierten im Hintergrund.

4) Otto Georg von Simson, Zur Genealogie der weltlichen Apotheose im Barock,
besonders der Medicigalerie des P. P. Rubens (insbesondere die ersten Kapitel, die
sich auf die Epochen vor 1600 beziehen). Hier ein umfassendes Literaturverzeichnis.

5) Vgl. Giehlows Abhandlung im Wiener Jahrbuch des allerhöchsten Kaiser-
hauses XXIX und XLI, sowie L. Volkmann, Bilderschriften der Renaissance,
Leipzig 1923, Saxl-Panofsky, Dürers Melencolia I, Leipzig 1923, Otto Brendel, Sym-
bolik der Kugel, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische
Abteilung 51, 1936.

6) „Wir sehen in diesem theosophischen Naturalismus, der in Italien seinen
Ursprung hatte, das Gegenstück zur deutschen Mystik" (Windelband, Geschichte
der neueren Philosophie, Leipzig 1907, Seite 43).

7) „Ein merkwürdiges Geheimnis bleibt dennoch vorerst die tiefere Ahnung,
welche die Hieroglyphik wie der abendländische Theismus von der gemeinsamen
kosmologischen Wurzel der abendländischen Mythen scheinen besessen zu haben"
(von Simson a. a. O. Seite 392).

8) Sumpf und Überschwemmung als alchemistische Symbole der „Putrefactio"
z. B. in der Berliner Bilderhandschrift „Splendor solis" (1535); vergl. Hartlaub,
Signa Hermetis, Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, Bd. IV
Heft 2 und 3 (1937). Zum Sumpfsymbol in der Mythologie vergl. auch Bachofen,
Der Sumpf und seine Gewächse (Urreligion und antike Symbole, herausg. von Ber-
noulli, Leipzig (Reclam) Bd. I, Seite 353 ff.
 
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