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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Hartlaub, Gustav Friedrich: Der Paris-Mythos bei Giorgione: eine Vermutung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0276
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Selbst wenn sich der Hinweis Ridolfis auf den Vater aus dem Geschlecht der
Barbarelli nicht weiter sichern lassen sollte: ist eine uneheliche Abstammung1,
eine aristokratische Abstammung des Meisters denn innerlich so unwahr-
scheinlich? Hat sie nicht im Gegenteil, wenn man alle Umstände der Persönlichkeit
und ihres Wirkens zusammenhält, etwas recht Überzeugendes und Einleuchtendes?
War G. vielleicht ein Findelkind, diskreter Geburt von einem aristokratischen Vater
(warum schließlich nicht einem Barbarelli?) und einer Mutter, auf die das Wort
Vasaris vom „umilissimo Stirpe" zuträfe?! Man könnte sich denken, daß das Kind
im Findelhaus abgegeben oder vor die Kirchentür gelegt worden ist (die „Aus-
setzung") und daß Bauersleute (die bemittelte Familie in Vedelago?) das Kind
angenommen und erzogen haben — wie das nicht selten mit Findelkindern geschah.
Möglicherweise fiel seine Schönheit, seine eminente Begabung frühzeitig auf — viel-
leicht nannten ihn die Kameraden darum Giorgio n e: den großen (den renommi-
stischen?) Giorgio. Daraufhin mag der vornehme Vater — infolge irgendwelcher
vermittelnder Umstände, die wir nicht mehr rekonstruieren können —, sich seines
Sprößlings wieder „erinnert", später auch im Stillen für sein Fortkommen gesorgt
haben. Schon den Zwanzigjährigen scheint der Condottiere Tuzio Costanzi, ein
Lehnsmann der Königin Caterina Cornaro, der in Castelfranco lebte, protegiert zu
haben; er war es, der ihm den Auftrag zu der berühmten Madonna von Castel-
franco gegeben hat. Am Hofe der Königin selbst in dem benachbarten Asolo war
anscheinend schon der Jüngling wohlgelitten, was bei einem Unbekannten von nie-
derer Abkunft unwahrscheinlich wäre. In Venedig scheint der „große Giorgio" ganz
in exklusiv-aristokratischen Kreisen aufgegangen zu sein, was ja Vasaria andeutet;
vielleicht erklärt sich so auch, warum ihn Dürer bei seinem venezianischen Aufent-
halt in „Künstlerkreisen" anscheinend nicht kennengelernt hat. G. M. Richter macht
den Verfasser dieser Studie noch darauf aufmerksam, daß als G. jung von der Pest
hingerafft war, anscheinend kein Mensch in Castelfranco oder Vedelago, wo doch
Verwandte der legalen Eltern hätten wohnen müssen, Anspruch auf den kostbaren
Nachlaß erhob (dieser scheint vielmehr von Tizian übernommen worden zu sein).
Schließlich bleibt auch die Notiz, daß der berühmtgewordene Meister später in der
Familiengruft der Barbarelli beigesetzt worden sei, zwar nicht gesichert, aber auch
keineswegs widerlegt.

Eines scheint uns unanfechtbar: wenn die Legende von der unehelichen aristo-
kratischen Herkunft und der ländlichen Mutter unseres Wunderkindes und späte-
ren großen Sterns nicht stimmen sollte, so ist sie jedenfalls außerordentlich charak-
teristisch erfunden. Warum aber sollte sie eigentlich auch nicht „stimmen"?!

In der Tatsache, daß G. das Märchen von dem Kinde geheimer (unerwünschter)
Geburt und hoher Abstammung, von seiner Aussetzung, seiner Findung, von seinem
schließlichen Aufstieg und Ruhme in seiner Phantasie so gerne umspielt hat, könnte
man eine Bestätigung für seine Kindheitsgeschichte vermuten,
in welcher ein vornehmer Vater, eine vielleicht sehr niedere Mutter, Aussetzung und
ländliche Erziehung, dann schneller Aufstieg eine solche, wohl auch in Giorgios
engerem Freundeskreise immer wieder beredete Rolle spielten.

Zu den mehr allgemeinen Gründen, die den Giorgione zu dem Mythus des
Kindes, vielleicht auch gerade des Parisknaben, hingezogen haben mögen, würden
sich demnach also noch mehr geheim-persönliche Anlässe gesellt haben. Dies Zu-
sammentreffen ist keineswegs unwahrscheinlich: zeigt uns doch auch die moderne
Traumpsychologie, daß das gleiche Traumsymbol (wie hier etwa das „Kind")
 
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