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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Töwe, Christian: Was heißt Stilentwicklung?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0304
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CHRISTIAN TÖWE

Welchen Bedingungen muß der Stil nun aber außerdem noch ge-
nügen, damit man zu Recht von seiner Entwickelung sprechen kann?
Zu den Bestandteilen des Entwickelungsbegriffes gehört neben anderen
Momenten, die wir vorerst vernachlässigen können, vor allem das der
Immanenz des Bewegungsantriebes5); d. h. die bewegende Kraft0), welche
eine Entwickelung verwirklicht, muß, wenigstens zum großen Teil, in
dem Subjekt, das sich entwickelt, selbst liegen, muß diesem Subjekt
immanent sein. Nur dann kann man von ihm sagen, daß es „sich" ent-
wickele.

Trifft das in unserm Falle zu? Sind die Kräfte, die den Stil ent-
wickeln, in diesem selbst enthalten? Oder, allgemeiner gefragt, besitzt
objektiver Geist immanente Kräfte?

Nein, niemals — kann die Antwort darauf nur lauten. Objektiver
Geist, also auch jeder Stil, schwebt nicht über den Menschen in selbst-
genügsamer Isolierung und eigenmächtiger Selbständigkeit, um sich von
da herabzulassen und die Tätigkeit der Menschen zu leiten, sondern er
existiert nur in engster Bindung an diese Menschen und nie unabhängig
von ihnen — wohl unabhängig von diesem oder jenem, worin ja gerade
seine Objektivität besteht, aber niemals unabhängig von allen Menschen,
„an sich". Die Menschen als die lebendigen Träger des gemeinsamen
Stiles sind es nun auch allein, die durch ihre Handlungen und Tätig-
keiten, Entscheidungen und Leistungen, Schöpfungen und Unternehmun-
gen den Stil wandeln und verändern. Der Stil bewegt nicht „sich", wie
es jener Satz, von dem wir ausgingen, behauptet, sondern einzig und
allein durch die tätige Energie der Einzelmenschen, durch das schöpfe-
rische Wirken der Künstler wird er weiterbewegt. Diese treibende Kraft
setzt sich zusammen aus zahllosen Anstößen, die von vielen Menschen
ausgehen, und wenn sich die Strebungen so vieler einzelner nicht gegen-
seitig aufheben, sondern doch eine gerichtete Gesamtbewegung zustande
kommt, so nur deshalb, weil die Menschen nicht isoliert nebeneinander
dahinleben, sondern Gemeinschaften bilden, ferner, weil alle Einzel-
anstöße durch den bereits vorhandenen Stil in bestimmter Richtung deter-
miniert sind, und endlich, weil meist nur das wirksam wird, was einer
schon herrschenden Tendenz sich einfügt. Der Stil hat weder Willen,
noch Bewußtsein, noch Tätigkeitsvermögen; für seine reale Veränderung
bleibt er immer auf die Menschen angewiesen, mag das nun, je nach

geistesgeschichtlichen Epochebegriffes: Deutsche Viertel]ahrsschrift 1933, S. 137),.
dann kann man ihm auch niemals eine reale Entwickelung zuerkennen.

5) E. Rothacker, Geschichtsphilosophie: Handbuch der Philosophie IV, S. 19.

6) Dieser Ausdruck ist hier nicht gleichbedeutend mit „Ursachen"; die „Kräfte"
sind vielmehr nur ein „Teil" sämtlicher eine Entwickelung bedingenden Ursachen,
nämlich nur diejenigen, die unmittelbar faktische Veränderungen bewirken.
 
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