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RICHARD HENNIG
Solche und viele ähnliche Fälle von „Melodien, die sich begegnen",
sind selbstverständlich nur als rein zufällige Übereinstimmungen zu be-
werten, bei denen selbst die Annahme eines unbewußt gebliebenen Pla-
giats unnötig und entbehrlich erscheint. Es kommen nun aber auch Bei-
spiele in Betracht, bei denen eine unbewußte Entlehnung fremden Melo-
diengutes durch einen der Großen der Musik als ziemlich sicher erwiesen
angesehen werden muß. Sowohl in der klassischen Musik wie in der mo-
dernen lassen sich hierfür allerlei Belege erbringen:
1. Im Allegro molto des Schubertschen Streichquartetts in D-moll findet sich
eine unverkennbare Reminiscenz an das Scherzo von Beethovens neunter Sinfonie.
Das Quartett entstand 1826, also sehr bald nach der Sinfonie (1823). Da sogar die
Tonart übereinstimmt, liegt eine unbewußt gebliebene Entlehnung mit Sicherheit vor,
denn Schubert kannte natürlich Beethovens majestätische letzte Sinfonie genau. Oe-
rade aber weil sogar einem Schubert ein derartiges „Plagiat" zustieß, das dieser
größte aller Melodienerfinder gewiß nicht nötig hatte, sehen wir, wie leicht „das
Gedächtnis entgleisen" kann.
2. In Chopins Ges-dur-Etude finden sich unverkennbare Anklänge an Beethovens
G-dur-Sonate, op. 79.
3. Eine unzweifelhafte, unbewußte Entlehnung der psychologisch reizvollsten Art
bietet uns abermals Siegfrieds Jubelgesang im „Siegfried", der uns schon oben eine
merkwürdige .Parallele zu einem derben, alten Volkslied bescherte. Wenige Takte
vor den schon zitierten Worten „wie der Fisch froh in der Flut schwimmt" singt der
jugendliche Held zu den Worten „wie ich froh bin, daß ich frei ward" die Melodie
des Anfangs von — Beethovens Sonate für das Hammerklavier, op. 106. Im Rhyth-
mus gibt es eine geringe Abweichung: Dreiviertel- gegen Viervierteltakt; sonst aber
erstreckt sich die Obereinstimmung nicht nur auf die Melodie, sondern auch auf die
Tonart B-dur und vor allem auf die ganz eigenartige Harmonisierung. Zum Ver-
gleich halte man die nachfolgenden Notenbeispiele nebeneinander.
8eeHioven,op.106 Wagner: Siegfried
, , Wie ich fr;oh bin, dass ich frpi wpnj
m
Eine ähnliche sichere Entlehnung läßt sich bei Robert Schumann nachweisen.
Herr Sautier in Karlsruhe machte mich brieflich am 12. Februar 1930 freundlichst
darauf aufmerksam, indem er schrieb:
„Ich kann es mir nicht versagen, Ihre Aufmerksamkeit auf ein höchst merk-
würdiges Plagiat im Adagio der Schumann'schen C-dur-Sinfonie zu lenken, das mir
von je besonders aufgefallen war. Ich stelle den Anfang dieses Satzes genau über den
Anfang des ersten Satzes der zu Großvaters Zeit vielgespielten vierhändigen Sonate
von Onslow:
RICHARD HENNIG
Solche und viele ähnliche Fälle von „Melodien, die sich begegnen",
sind selbstverständlich nur als rein zufällige Übereinstimmungen zu be-
werten, bei denen selbst die Annahme eines unbewußt gebliebenen Pla-
giats unnötig und entbehrlich erscheint. Es kommen nun aber auch Bei-
spiele in Betracht, bei denen eine unbewußte Entlehnung fremden Melo-
diengutes durch einen der Großen der Musik als ziemlich sicher erwiesen
angesehen werden muß. Sowohl in der klassischen Musik wie in der mo-
dernen lassen sich hierfür allerlei Belege erbringen:
1. Im Allegro molto des Schubertschen Streichquartetts in D-moll findet sich
eine unverkennbare Reminiscenz an das Scherzo von Beethovens neunter Sinfonie.
Das Quartett entstand 1826, also sehr bald nach der Sinfonie (1823). Da sogar die
Tonart übereinstimmt, liegt eine unbewußt gebliebene Entlehnung mit Sicherheit vor,
denn Schubert kannte natürlich Beethovens majestätische letzte Sinfonie genau. Oe-
rade aber weil sogar einem Schubert ein derartiges „Plagiat" zustieß, das dieser
größte aller Melodienerfinder gewiß nicht nötig hatte, sehen wir, wie leicht „das
Gedächtnis entgleisen" kann.
2. In Chopins Ges-dur-Etude finden sich unverkennbare Anklänge an Beethovens
G-dur-Sonate, op. 79.
3. Eine unzweifelhafte, unbewußte Entlehnung der psychologisch reizvollsten Art
bietet uns abermals Siegfrieds Jubelgesang im „Siegfried", der uns schon oben eine
merkwürdige .Parallele zu einem derben, alten Volkslied bescherte. Wenige Takte
vor den schon zitierten Worten „wie der Fisch froh in der Flut schwimmt" singt der
jugendliche Held zu den Worten „wie ich froh bin, daß ich frei ward" die Melodie
des Anfangs von — Beethovens Sonate für das Hammerklavier, op. 106. Im Rhyth-
mus gibt es eine geringe Abweichung: Dreiviertel- gegen Viervierteltakt; sonst aber
erstreckt sich die Obereinstimmung nicht nur auf die Melodie, sondern auch auf die
Tonart B-dur und vor allem auf die ganz eigenartige Harmonisierung. Zum Ver-
gleich halte man die nachfolgenden Notenbeispiele nebeneinander.
8eeHioven,op.106 Wagner: Siegfried
, , Wie ich fr;oh bin, dass ich frpi wpnj
m
Eine ähnliche sichere Entlehnung läßt sich bei Robert Schumann nachweisen.
Herr Sautier in Karlsruhe machte mich brieflich am 12. Februar 1930 freundlichst
darauf aufmerksam, indem er schrieb:
„Ich kann es mir nicht versagen, Ihre Aufmerksamkeit auf ein höchst merk-
würdiges Plagiat im Adagio der Schumann'schen C-dur-Sinfonie zu lenken, das mir
von je besonders aufgefallen war. Ich stelle den Anfang dieses Satzes genau über den
Anfang des ersten Satzes der zu Großvaters Zeit vielgespielten vierhändigen Sonate
von Onslow: