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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 36.1942

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San Lazzaro, Clementina di: Die Kunstkritik R. M. Rilkes und sein "August Rodin"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14218#0034
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CLEMENTINA DI SAN LAZZARO

über Carpaccio zu schreiben, die Vorliebe Rilkes für eine solche kritische
Tätigkeit deutlich hervorgeht. — Da aber erst in „August Rodin" das
Eigenartige seiner dichterischen Kritik seinen Höhepunkt erreicht, werden
wir uns ausschließlich mit diesem Werk befassen.

Die Eigentümlichkeit von Rilkes „Rodin" besteht vor allem darin, daß
der Kritiker auf jede rationale Beurteilung, auf jedes persönliche Richt-
maß verzichtet, daß er Künstler und Kunstwerk in einer absoluten Isoliert-
heit betrachtet, als ein auf sich Beruhendes und in sich Innewohnendes,
das von eigenen Gesetzen bestimmt wird und aus organischer Notwendig-
keit herauswächst.

Das außergewöhnliche Zusammenfallen zweier inneren Welten, der
Rilkeschen und der Rodinschen, hat mit sich als Folge gebracht, daß die
kritische Deutung eine bewußte Ausstrahlung der Künstlerpersönlichkeit
selbst zu sein scheint, als ob diese, nachdem sie ihre Erzeugnisse hervor-
gebracht hat, die eigenen tiefen Gesetze erkannte und ihren Werdegang
auf objektive Weise wiederzuerleben vermöchte.

Das konnte sich nur aus der dreifachen Mitwirkung folgender Um-
stände ergeben: aus dem passiven, der Empfängnis grenzenlos hingegebe-
nen Charakter Rilkes, aus dem entgegengesetzten Rodins, der um so mehr
dazu bestimmt war, den anderen zu beeinflussen und zu befruchten, aus
dem Kultus der Kunst, welche beiden das Leben ersetzte. — Dazu kom-
men die Bestrebungen Rilkes, womit er eine Wiedergeburt, eine Umgestal-
tung der eigenen Kunst beabsichtigte durch eine, die sich ganz anderen
Stoffes und Verfahrens bediente; denn eben ein solcher Drang mußte ihn
zu den tiefsten Entstehungsgründen, zu der Urzelle der Rodinschen-Per-
sönlichkeit und Kunst führen, und ihm zur Entdeckung der Gesetze ver-
helfen, welche jene Entwicklung bestimmt und geregelt hatten.

Eben dadurch wird Rilkes „Rodin" zur Geschichte der Entwicklung
des Künstlers, zu seinem inneren Leben selbst, das sich unmittelbar aus-,
zudrücken scheint und sich wiedererleben läßt über alle kritische Ver-
mittlung hinweg.

Die indirekte Redeweise, die nach den Forderungen der Arbeitsart
formulierten Vermutungen, die Anmerkungen und Anführungen genügen
nicht, um in uns jenes starke Gefühl ersterben zu lassen, daß eine solche
Deutung von demselben Ich stamme, welches die gleichen Dinge, die er
bereits in Marmor, Bronze und Stein, mit Meißel und Bleistift hervor-
gebracht hatte, noch einmal durch das Wort sprechen läßt.

Wir sehen und empfinden jene Statuen, Gruppen, Stiche und Portraits
vor unseren Augen wieder lebendig werden, untrennbar von jener Atmo-
sphäre, die einmal im Geist des Meisters ihr Entstehen — wie Luft und
Sonne — umgab.
 
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