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JULIUS WIEOAND
und geschwätzig beginnt Brockes sein Gedicht „Vergißmeinnicht". Bei
Mörike sind die schwachen Einsätze begreiflicherweise häufig: „Am
frisch geschnittnen Wanderstabe / Wenn ich in der Frühe / So durch die
Wälder ziehe, / Hügelauf und -ab, / Dann, wie's Vögelein ... Oder wie die
goldne Traube ... So fühlt auch mein alter lieber Adam ..."; bis dahin
zehn Zeilen. Anfang mit Nebensatz, besonders mit Zeit- oder Ortsatz, be-
deutet meist leisen Beginn: „Als ich auf dem Euphrat schiffte, Streifte
sich der goldne Ring Fingerab ..." (Diwan, Buch Suleika)6).
Länge und Kürze. Die alte Rhetorik sagte, die Einleitung solle
nur ein Siebentel bis ein Fünftel des Ganzen ausmachen. Auch im lyri-
schen Gedicht wird dies Verhältnis im allgemeinen eingehalten. Das
kurze Volkslied „Drei Laub auf einer Linden" gibt der Einleitung zwei
Zeilen, Klopstocks 15-strophiger „Eislauf" aber zwei Strophen. Kurzer
und langer Anlauf an sich und dann vor allem das Unverhältnis von
Einleitung und Kern (lange Einleitung bei kleinem Kern; kurze Ein-
leitung bei großem Kern) haben ihre besonderen Wirkungen. Lange Ein-
leitung z. B. wirkt rednerisch, prunkend, erhaben usw. (Klopstock, „Der
Eislauf", „Mein Vaterland"); oder auch behaglich, plaudernd (Mörike,
„Ach nur einmal noch"), oder breit und geschwätzig (Brockes, „Vergiß-
meinnicht"). Die Einleitung kann um der Spannung willen gedehnt wer-
den: Klopstock, „An Fanny". Es gibt schließlich Grenzfälle, wo man
fast schwanken kann, ob die Einleitung nicht den Kern und der Kern
nicht den Schluß darstelle: Horaz, „Maecenas atavis edite regibus". Es
berühren sich solche Gebilde mit den auf den Schluß zu gebauten Gedich-
ten, von denen wir nachher sprechen werden.
Es können auch zwei oder drei Einleitungen aneinanderge-
reiht sein. Um der Spannung willen dehnt Walther gelegentlich auf diese
Weise den Anlauf; am auffallendsten in „Ir sult sprechen willekomen":
1. Ich bringe nie gehörte Kunde; 2. Ich könnte dafür auch hohen Lohn
fordern; 3. Besonders den Damen will ich Erfreuliches künden; 4. Aber
ich wünsche von ihnen als Lohn nur ihren Gruß; dann endlich kommt
er zum Kern, aber zunächst noch in verneinender Form: Fremde Sitte
gefällt mir nicht. — In gemütlichem Plauderton dehnt Mörike die
Einleitung in „Waldplage": 1. Im Walde ist alles schön. 2. Zeigt sich
etwas Widriges, suche ich eine andere Stelle des Waldes auf. 3. Nur den
Schnaken kann man nicht entgehen. Dann erst das Kernstück, wie er
mit Klopstocks Oden Schnaken fing. In Mörikes Gedicht „Erinna an
Sappho" ist die doppelte Einleitung durch die Lässigkeit der Briefform
gegeben.
* *
*
°) Weitere Beispiele: M. Claudius, „Phidile"; C. F. Meyer, „Die Bank des Alien".
JULIUS WIEOAND
und geschwätzig beginnt Brockes sein Gedicht „Vergißmeinnicht". Bei
Mörike sind die schwachen Einsätze begreiflicherweise häufig: „Am
frisch geschnittnen Wanderstabe / Wenn ich in der Frühe / So durch die
Wälder ziehe, / Hügelauf und -ab, / Dann, wie's Vögelein ... Oder wie die
goldne Traube ... So fühlt auch mein alter lieber Adam ..."; bis dahin
zehn Zeilen. Anfang mit Nebensatz, besonders mit Zeit- oder Ortsatz, be-
deutet meist leisen Beginn: „Als ich auf dem Euphrat schiffte, Streifte
sich der goldne Ring Fingerab ..." (Diwan, Buch Suleika)6).
Länge und Kürze. Die alte Rhetorik sagte, die Einleitung solle
nur ein Siebentel bis ein Fünftel des Ganzen ausmachen. Auch im lyri-
schen Gedicht wird dies Verhältnis im allgemeinen eingehalten. Das
kurze Volkslied „Drei Laub auf einer Linden" gibt der Einleitung zwei
Zeilen, Klopstocks 15-strophiger „Eislauf" aber zwei Strophen. Kurzer
und langer Anlauf an sich und dann vor allem das Unverhältnis von
Einleitung und Kern (lange Einleitung bei kleinem Kern; kurze Ein-
leitung bei großem Kern) haben ihre besonderen Wirkungen. Lange Ein-
leitung z. B. wirkt rednerisch, prunkend, erhaben usw. (Klopstock, „Der
Eislauf", „Mein Vaterland"); oder auch behaglich, plaudernd (Mörike,
„Ach nur einmal noch"), oder breit und geschwätzig (Brockes, „Vergiß-
meinnicht"). Die Einleitung kann um der Spannung willen gedehnt wer-
den: Klopstock, „An Fanny". Es gibt schließlich Grenzfälle, wo man
fast schwanken kann, ob die Einleitung nicht den Kern und der Kern
nicht den Schluß darstelle: Horaz, „Maecenas atavis edite regibus". Es
berühren sich solche Gebilde mit den auf den Schluß zu gebauten Gedich-
ten, von denen wir nachher sprechen werden.
Es können auch zwei oder drei Einleitungen aneinanderge-
reiht sein. Um der Spannung willen dehnt Walther gelegentlich auf diese
Weise den Anlauf; am auffallendsten in „Ir sult sprechen willekomen":
1. Ich bringe nie gehörte Kunde; 2. Ich könnte dafür auch hohen Lohn
fordern; 3. Besonders den Damen will ich Erfreuliches künden; 4. Aber
ich wünsche von ihnen als Lohn nur ihren Gruß; dann endlich kommt
er zum Kern, aber zunächst noch in verneinender Form: Fremde Sitte
gefällt mir nicht. — In gemütlichem Plauderton dehnt Mörike die
Einleitung in „Waldplage": 1. Im Walde ist alles schön. 2. Zeigt sich
etwas Widriges, suche ich eine andere Stelle des Waldes auf. 3. Nur den
Schnaken kann man nicht entgehen. Dann erst das Kernstück, wie er
mit Klopstocks Oden Schnaken fing. In Mörikes Gedicht „Erinna an
Sappho" ist die doppelte Einleitung durch die Lässigkeit der Briefform
gegeben.
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°) Weitere Beispiele: M. Claudius, „Phidile"; C. F. Meyer, „Die Bank des Alien".