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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 36.1942

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https://doi.org/10.11588/diglit.14218#0074
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BESPRECHUNGEN

gelingt es ihm leider nicht völlig, sich von den selbstauferlegten Ausgangsbedin-
gungen freizumachen. Hätte er nicht besser daran getan, von vornherein und immer
der Kraft und Ergriffenheit des eigenen Stifter-Lesens unbefangener zu vertrauen?
Eine polemische Opposition gegen das Urteil eines andern ist ja nicht ohne weiteres
schon Zeugnis einer ursprünglichen Unbefangenheit. Sie wird es glaubhaft erst
dann, wenn die eigene Darstellung zeigt, daß sie nicht an den Verstehens-Horizont
der polemischen Ausgangs-Situation gebunden bleibt, sondern ihn in ihren eigenen
hineinnimmt.

Wenn man schon in den Hauptkapiteln, freilich selten, ein Stück Befangenheit,
sei es auch kritischer Befangenheit, im Stifter-Bild andrer Forscher und Ausleger
zu verspüren meint, so liegt sie in den drei Rahmenkapiteln offen zutage. Am
wenigsten befriedigt das fünfte: „Die Bedeutung". Statt daß es die vielen Fäden
der voraufgehenden straff in die Hand nimmt und dann zeigt, worin nun Stifters
Größe und Gültigkeit für uns besteht, holt es alle möglichen Äußerungen und Ge-
sichtspunkte heran, ohne daß sich scharfe Konturen herausbildeten. Wie dürftig
ist z. B. das, was gleich auf den ersten Seiten (nach einem polemischen Absprung
von G. Müller) über Stifters Religiosität gesagt wird. Es paßt nicht einmal recht
zu dem, was vorher (S. 211) über Nachsommer und Katholizismus zu lesen war. —
Unorganisch ist auch das erste Kapitel des Buches: „Der Ursprung". Es mengt
biographische Tatsachen und Gedanken über das Wesen der Stifterschen Kunst
durcheinander; fast in seiner ganzen zweiten Hälfte beschäftigt es sich mit Stifters
Tod. — Ein wenig straffer und dichter ist das zweite Kapitel: „Das Wesen". Völlig
überflüssig ist zwar die ausführliche Polemik gegen die Dissertation von M. Gump.
Dann aber folgen lesenswerte Seiten über das sittliche Wesen der Kunst Stifters,
über die weltanschaulichen Grundlagen seines Schaffens und über die Raum- und
Zeitdarstellung in seinem Werk. Freilich ist hier zu fragen: Hätte nicht das ganze
Kapitel, oder hätten nicht mindestens seine Raum- und Zeitabschnitte zweckmäßiger
auf das vierte Kapitel folgen sollen? Es ist kein Zufall, daß Kühn selbst darauf
verzichtet, auch das Thema „Ursächlichkeit" vorgreifend zu behandeln.

Kühn geht von der Überzeugung aus, Stifters Größe sei „eine immer noch
mehr geahnte als einwandfrei erwiesene Größe" (270). In dieser Behauptung steckt
natürlich sehr viel Richtiges. Ihren Wahrheitsgehalt aber überschätzt man, wenn
man sich wie Kühn dazu verleiten läßt, überholte Fehlurteile, die wirklich keine
Gefahr mehr bilden, wieder hervorzuholen, um noch einmal gegen sie zu Felde zu
ziehen. Es ist nicht ganz unbedenklich, überflüssige Werbung für den Dichter zu
betreiben. Bertram sollte nicht umsonst den (auch von Kühn herangezogenen) Satz
geschrieben haben: „Wir wollen die geistige Gestalt Stifters nicht übersteigern —
diese Gefahr deutet sich im gegenwärtigen Schrifttum über Stifter vielleicht schon
an" (Deutsche Gestalten, 241). Zu einer seinen Ruhm von neuem gefährdenden
„Übersteigerung" könnte es kommen, wenn wir versäumen, Stifters Größe in ihren
Grenzen zu sehen, aber auch dann, wenn wir vergessen, daß zu ihm selbst der
geistige Lebensraum seiner Zeit und seiner Welt hinzugehört. Daß Kühn keine
dieser beiden Aufgaben anpackt, darf man ihm gewiß nicht zum Vorwurf machen.
Wohl aber muß es gesagt werden, um sein Buch sinngemäß einzugrenzen.

Marburg. W. Kalthoff.

Schriftwalter: Prof. Dr. Richari Müllci-Freicnf eis, Berlin; für den Anzeigenteil verantwort-
lich: W a 11 h e r T h a s s i 1 o Schmidt-Gabain, Stuttgart. — I. v. W. g. — Verlag von Ferdinand
Enke in Stuttgart. A. Oelschläger'sche Buchdruckerei, Calw. Printcd in Germany.
 
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