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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 36.1942

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Kühne, Otto: Schöne Kunst und Lebenskunst: Betrachtungen zu Schillers Lebensauffassung im Lichte der Polaritätstheorie, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14218#0076
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OTTO KÜHNE

aller Lebenserscheinungen ist nun aber, wie ich schon in meinen frühe-
ren Veröffentlichungen1) näher ausgeführt habe, ihre Polarität.

In jedem Leben steht sich vor allem immer nur zweierlei gegenüber:
einmal in der innersten (Keim-) Anlage unabänderlich Gegebenes und
sodann (durch die Außenwelt) Beeinflußbares und damit Veränderliches.
Überall im Leben begegnen und fordern sich in dauerndem Wechselspiel
untereinander Beharrliches und Nichtbeharrliches, und zwar nicht als
gewöhnliche — kontradiktorische — Gegensätze, die zu einem unversöhn-
lichen (sog. dialektischen) Widerspruch führen, sondern als polare
Gegensätze, d. h. als ihrem Wesen nach zwar einander entgegengesetzte
und begrifflich selbständige, aber dennoch (organisch) zusammengehö-
rige Teile, welche aus dieser ihrer Zusammengehörigkeit heraus ein ein-
heitliches Ganzes bilden und damit ihre notwendige Verknüpfung (Syn-
these) bereits aus sich heraus (immanent) begründen. Polare Gegensätze
sind somit Gegensätze, welche sich nicht gegenseitig ausschließen, son-
dern einschließen, d. h. wechselseitig bedingen, weil sie in einem geschlos-
senen Funktionszusammenhange untereinander stehen. Diese Art der
funktionellen Verknüpfung polarer Gegensätze z. B. von Geburt und Tod
zu einem (organischen) Lebensganzen bildet den Inhalt alles sozial-
organischen oder polaren Denkens im Gesellschaftsleben.

Polar denken heißt damit nichts weiter, als in analytischer (disjunk-
tiver) Hinsicht lebensgemäß und lebenseinheitlich (organisch) denken.
Das Leben selbst kennt überhaupt keine absoluten und kontradiktori-
schen Gegensätze (wie z. B. Gut und Nicht-Gut). Es wandelt vielmehr
diese zunächst nur aus rein begrifflichen Unterscheidungsgründen denk-
notwendigen Gegensätze in 1 e b e n s notwendige — eben polare — Ge-
gensätze um. So wird aus dem kontradiktorischen Gut und Nicht-Gut
ein polares Gut und Schlecht (= weniger Gut).

Solcher polarer Gegensätze als organisch-zusammengehörige Wider-
sprüche gibt es auf allen Gebieten des menschlichen Denkens. Dabei be-
steht ein (polares) Element nur durch das andere, das Ganze nur durch
seine Teile. Ja, die Polarität begegnet uns überall im täglichen Leben
in den mannigfaltigsten Gegenüberstellungen, wie z. B. positiv und ne-
gativ, Einheit und Vielheit, aktiv und passiv, innen und außen, usw.
Sie drückt sich am deutlichsten in der Sprache des Volkes aus, das die
einander entgegengesetzten Teile bewußt heraushebt, um damit ein Gan-
zes besser bezeichnen zu können. Es sagt z. B. Berg und Tal für die
Weite, früh und spät für immer, hoch und niedrig für jedermann usf.

a) Vgl. insbesondere meine „Exakte Nationalökonomie", Verlag Gustav Fischer,
Jena 1934, sowie meine „Theorie und Praxis im völkisch-sozialen Leben. Ein Beitrag
zur Frage: Politik oder Wissenschaft?" Verlag für Staatswissenschaften und Ge-
schichte, Berlin 1936.

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