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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 36.1942

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Roretz, Karl von: Zur Psychologie und Ästhetik der Reimfindung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14218#0105
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ZUR PSYCHOLOGIE UND ÄSTHETIK DER REIMFINDUNG 95

sich freier entfaltet hätten. Doch nur unsichere Spuren dieser Frage-
stellung lassen sich hier eine Zeitlang verfolgen.

Weiter: Das Maß der individuell erworbenen (übrigens einer Steige-
rung fähigen) Geschicklichkeit der Vers- und Reimbehandlung weist doch
ganz gewaltige Unterschiede auf! Mögen manche Dichter vor unseren
Augen einen unaufhörlichen — und nicht immer siegreichen — Kampf mit
Metrum und Reim aufführen, so gilt doch für andere wieder das hübsche
Wort, der Reim (la rima) sei „spesso collaboratrice di poeti veramente
grandi" (Mario Pelaez).

Vor allem aber: Was, allgemein-theoretisch, für die ästhetische Wertig-
keit des Reimes in dieser oder jener Literatur angeführt werden kann
oder könnte, liegt doch ganz gewiß tief unter dem, was tatsächlich durch
das Medium des Reimes unsere ganze ästhetische Persönlichkeit lustvoll
ergreifen, erschüttern, bereichern kann und daher letztlich auch unser
konkretes Werturteil bestimmt. Nicht das äußere Gesicht des gefundenen
Reimes, für das man recht leicht Normen ersinnen und Paradigmen auf-
stellen konnte (man denke etwa an Boileau und A. Pope!), ist für unsere
konkrete Bewertung dieses Gebildes maßgebend, sondern seine ästhetische
Tiefenwirkung.

Ihre Tatsächlichkeit und (in gewissem Sinn!) Unableitbarkeit ist zu-
gleich eines der stärksten Argumente gegen jede allzu schulmäßige, allzu
intellektualistische Psychologie und Axiologie. Denn jeder schöne, kräf-
tige, interessante, malerische, auch klanglich gleichsam „Hintergründe
eröffnende" Reim ist stets eine Art Glücksfall — P. v. Preradovic spricht
von den „gottgeschenkten" ersten Zeilen oder plötzlich aufleuch-
tenden Reimworten —, der psychologisch nicht völlig erklärbar ist und
dessen Wirkungsweise sich nicht rein rational umschreiben oder abwägen
läßt. Es ist hier wie bei der Struktur eines Marmorblocks, der dem Dar-
gestellten zu Hilfe kommen kann (kann!), oder wie bei dem eigenwilligen
Fadenzug in einem Gobelin, der manchmal ein intensives, theoretisch
kaum erfaßbares „Plus" an ästhetischer Wirkung gewährt.

In diesem Sinn darf man vielleicht, abschließend, sagen, daß das
Problem der Reimfindung, ganz zu Ende gedacht, wieder ein-
mal die Rolle des Irrationalen in unserer Seelen- und Wertlehre eindrucks-
voll vor Augen führt!
 
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