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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 36.1942

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Wiegand, Julius: Die verbale Person im lyrischen Gedicht
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https://doi.org/10.11588/diglit.14218#0140
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Julius wiegand

Es ist behauptet worden, daß das wahre lyrische Ich den Sinn von
„wir alle" habe: Walzel („Leben, Erleben und Dichten", Leipzig 1912,
S. 42). Und Marg. Susmann („Das Wesen der modernen deutschen
Lyrik", Stuttgart 1910, S. 15 ff.) unterscheidet das subjektive, persön-
liche Ich des Dichters von dem „lyrischen" Ich, das ein symbolisches, all-
gemeines Ich sei, ein Ich, das den Einzelfall zu allgemeiner Geltung er-
hebe. Gegenüber solchen Ansichten sind einige Einschränkungen am
Platze. Man kann nicht verlangen, daß ein Gedicht von allen Menschen
nachgefühlt werden kann („Des Sehers Wort ist wenigen gemeinsam":
George, „Jahr der Seele", S. 152). Für den Durchschnittsleser, der nicht
ästhetischer Equilibrist ist, wie Forscher es sein müssen, fallen weite Ge-
biete aus; da sprechen Unterschiede des Alters, des Standes, der Bildung,
des Charakters, des Temperaments und vor allem der Weltanschauung
mit. Ein Marienlied wird einem Puritaner Widerwillen einflößen; bei
Nietzsches Tanzlied „An den Mistral" wird der humanitäre Ethiker, bei
Schillers „Ideal und Leben" der sittliche Realist sich nicht mit dem Dich-
ter in eins setzen können. Es hat immer Lyrik für kleinste Kreise gegeben,
die man deshalb nicht aus der „wahren Lyrik" ausscheiden sollte, weil
sie esoterisch ist; vielleicht wird sie nach einigen Jahrzehnten von den
Vielen genossen werden.

„Ich" erscheint nicht nur im Munde des Dichters, sondern auch im
Munde von Gestalten, die der Dichter redend vorführt. Geht dieses Ich
durch das ganze Gedicht hindurch, so entsteht das Rollen- oder das
Maskengedicht (Scherer, „Poetik", Berlin 1888, S. 244). Im Rol-
lengedicht versetzt sich der Dichter in die Seele eines anderen Wesens,
dessen Seelenleben und Lebenslage nicht gleich denen des Dichters sind:
Hofmannsthal, „Der Schiffskoch, ein Gefangener, singt". Im Masken-
gedicht sind die Empfindungen und Ansichten die des Dichters; nur die
Umwelt, die Nebenumstände weisen auf ein anderes Wesen: Goethe, „Jä-
gers Abendlied", „Prometheus". Im folgenden ist unter Rollengedicht das
Maskengedicht meist mitgemeint. Der Reiz des Rollengedichts beruht auf
dem „Modulieren". So nenne ich mit einem der Musik entlehnten Aus-
druck die Umsetzung eines Vorgangs, eines Gefühls aus der Tonart des
Dichters in die Tonart einer anderen Persönlichkeit, die Einfühlung in
Charakter, Stimmung, Temperament, Ausdrucksweise einer fremden Ge-
stalt, die Verschiebung des Blickpunktes, der nun nicht mehr der des
Dichters, sondern einer vom Dichter verschiedenen Gestalt ist. Die Modu-
lierung entfaltet ihre stärkste Wirkung im Gerähme (so nenne ich das
vom Rahmen Umschlossene) einer Rahmendichtung. (Die ausführliche
Betrachtung des Modulierens bleibt daher einer anderen Abhandlung
vorbehalten.) Beim Modulieren spricht nicht der Dichter, sondern er er-
teilt das Wort einer andern Person; das Darzustellende spiegelt sich in
 
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