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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 36.1942

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Kühne, Otto: Schöne Kunst und Lebenskunst: Betrachtungen zu Schillers Lebensauffassung im Lichte der Polaritätstheorie, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14218#0158
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OTTO KÜHNE

Diese werde nur dann richtig betrieben, wenn sie den (inhaltlichen)
Stoff zwar von der Gegenwart nehme, seine geistige Formung aber von
einer edleren Zeit, ja möglichst jenseits aller Zeit, von der absoluten, un-
wandelbaren Einheit seines (Ich-)Wesens entlehne. Aus dem „reinen Äther"
der dämonischen menschlichen (Ich-)Natur entspringe der Quell alles wahr-
haften Schönheitsempfindens. Die geschichtliche Entwicklung habe bewie-
sen, daß in der schönen Kunst allein die geistige Form von Dauer ge-
blieben sei, die den immerfort wechselnden Inhalt stets (dialektisch)
überlebt habe. Die römischen Tempel blieben dem Auge noch heilig, als
die Götter längst zum Gelächter dienten, und „die Schandtaten eines Nero
und Commodus beschämte der edle Stil des Gebäudes, das seine Hülle
dazu hergab". So lebte, meint Schiller, die Wahrheit des jeweiligen Lebens-
inhai t e s in der Täuschung der überkommenen Schönheits formen
fort. Die Kunst habe daher allein die verloren gegangene Würde der
Menschheit bewahrt und gerettet. Es gelte daher jetzt, aus den noch erhal-
tenen Nachbildern das Urbild wahrer Menschenbildung wiederherzustel-
len. Zu diesem Zwecke solle man aus dem zurückgebliebenen alten ein
neues Schönheits- und zugleich Lebens- und Bi 1 dungsideal er-
schaffen, welches die Richtung zum Guten aufweise und dabei den Ge-
danken siegender Wahrheit mittels edler und geistreicher Formen von
ansprechender Schönheit vertrete, „bis der Schein die Wirklichkeit und
die Kunst die Natur überwunden" habe.

Im Ergebnis sehen wir somit auch hier wieder die grundlegende dia-
lektische Auffassung Schillers von der Rolle der Kunst hervortreten, indem
die künstliche Form den wirklichen Lebens i n h a 11 ganz in sich auf-
nehmen und damit als selbständigen Lebenspol vollständig verdrängen
soll. Dies kann jedoch nicht auch, wie Schiller hier durchblicken läßt, der
Sinn einer politischen Kunst sein, welche sich die Bildung einer
echten Lebensgemeinschaft zum Ziele gesetzt hat. Denn letztere ist
nur dadurch zu verwirklichen, daß die Extreme von natur-(trieb-)hafter
und geistiger (künstlerischer) Freiheit durch die polar-wechselseitige An-
passung von praktischer Lebensformung und idealer Lebensanschauung
harmonisch überbrückt und einer wahren Gemeinschaftsbildung zugeführt
werden. Zwar ist es, wie gesagt, auch Schillers Ziel, die Welt aus der
„doppelten Verwirrung", nämlich aus der „Rohigkeit" der Natur und der
„Erschlaffung" des Geistes gleichermaßen zu befreien. Doch bleibt er auf
dem Wege zum politischen zu sehr im ästhetischen Lebensbereiche stecken,
als daß seine für diesen aufgestellten Grundsätze sich ohne weiteres auch
auf jenen übertragen ließen.

Immerhin sieht Schiller das Problem, um das es hier letzten Endes geht,
an sich insoweit richtig, als er die Frage stellt: „Wie kann aber die schöne
 
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