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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft: Zweiter Kongreß für Ästhethik und allgemeine Kunstwissenschaft Berlin, 16.-18. Oktober 1924 — 19.1925

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Die Vorgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.3819#0017

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10 MAX DESSOIR.

Kunst und spiegelt sich in den Begriffsbildungen: das Schlagwort
beispielsweise von der »Einheit der Musik« (Busoni) weist auf eine
platonische Idee der Musik, die übliche Unterscheidungen wie instru-
mental und vokal, geistlich und weltlich ins Außermusikalische ent-
schweben läßt. Aller Piatonismus aber, alle Spekulation neigt zur Miß-
achtung des tatsächlich Gegebenen. Die jüngste Kunst hat daraus die
Folgerung gezogen, daß sie die Wirklichkeit nicht nur umformen, son-
dern grundsätzlich zertrümmern dürfe, um zum Geist zu gelangen:
sie dürfe mit Formen und Farben, mit Sprache und Denken, mit
Klängen und Rhythmen so verfahren, daß eine bewußte Beziehungs-
Iosigiceit oder mindestens eine zur Unerkennbarkeit führende Verwick-
lung der Beziehungen entsteht. Diesem Vorgehen schmiegen sich neue
Theorien an, die freilich häufiger in der Kunstschriftstellerei des Tages
als in der strengen Wissenschaft zu finden sind.

Nun aber greift der Gedanke des Zerfalls noch weiter, indem er
selbst das Sein der Dinge aufspaltet und das scheinbar Ganze als ein
Trugbild behandelt: für gewisse Maler und ihre Erläuterer hält das
Sichtbare nicht mehr zusammen und jeder einzelne Splitter wird sozu-
sagen nach eigenem Aufbaugesetz geformt. In die gleiche Richtung
gehört es wohl, daß viele junge Musiker von der Orchestermasse zur
individualisierten Kammermusik und zum Einzelinstrument übergegangen
sind. Auch jener bemerkenswerten Tatsache darf hier gedacht werden,
daß die europäische Kunst, die früher mit Selbstverständlichkeit als
die Grundlage der ästhetischen Theorien angesehen wurde, uns jetzt
auf die Bedeutung eines Einzelfalles zusammenschrumpft. Mit einem
Worte, es besteht die Gefahr, daß Kunst und Kunstwissenschaft, sehn-
süchtig nach der zeitlosen Gültigkeit des Geistes spähend, aber ange-
wiesen auf die sinnliche Erscheinung und auf die deutende Gestal-
tung des Lebens, die Sicherheit des Standorts verlieren. Dies Schwanken
läßt sich nur beruhigen, wenn Schaffende wie Begreifende — auch
bei den kühnsten Versuchen — sich auf Erfahrungskönnen und Er-
fahrungswissen stützen.

Tun sie das, so werden sie am ehesten jener schweren Aufgabe zu
genügen vermögen, die gemeinhin mit dem Worte »Kunsterziehung«
bezeichnet wird. Gewiß soll die große Erscheinung der Kunst dem
Volk .und der Jugend nicht bloß in geschichtlich erforschten Einzel-
tatsachen nahe gebracht werden, sondern auch in philosophisch er-
faßten Zusammenhängen und in der Wendung zum Heute und Morgen.
Gewiß erwarten wir von der Kunstpädagogik Lebensgestaltung und
Wesenserhöhung weit über das Wissen hinaus. Doch wir verlangen,
daß der Weg durch das Wissen hindurch gehe. Denn das Schöne
und die Kunst wird nicht nur genossen, sondern auch verstanden.
 
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