STILVERWANDTSCHAFT ZWISCHEN MUSIK UND ANDERN KÜNSTEN. 439
Die Künste kommen mir vor wie eine Reihe von Zimmern neben-
einander, die sehr verschiedenartig möbliert und von sehr verschie-
. denartigen Menschen bewohnt sind; es führt kaum eine Tür von
Zimmer zu Zimmer, aber in sie alle scheint die gleiche Sonne herein,
die sie bald alle von Osten, bald von Süd, bald von Westen mit Früh-,
Mittags- oder Abendlicht erfüllt. Wir wollen schon sehr zufrieden sein,
wenn es uns aus guter Kenntnis des einen Zimmers auch im andern
zu unterscheiden gelingt, wie viel vom jeweiligen Farbenbild auf die
Beleuchtung von außen kommt, wie viel den spezifischen Eigenton
ausmacht. Und betrachten wir den einzelnen Inwohner (die große
schöpferische Persönlichkeit), so ist es unendlich wichtiger zu wissen,
wie dieser selber aussieht, als welcher Beleuchtungsreflex zufällig von
außen her über seine Züge spielt. Freilich, mancher scheint nur im
Morgenlicht richtig zu stehen, mancher entfaltet erst im Abendschatten
alle Tiefen seiner Physiognomie — ohne Bild gesprochen: mancher
ist ein echtes Produkt seiner Zeit, mancher aber (und gewöhnlich trifft
dies gerade auf die Größten zu) steht als »Unzeitgemäßer«, als ein
großes »Dennoch« und »Trotzdem« kampflustig oder verbittert da.
Auch diese Oppositionskonstellationen stilistisch zu erfassen, ist eine
Hauptaufgabe aller allgemeinen Kunstwissenschaft.
Mitberichte.
Georg Anschütz:
Der Moserschen These, daß Stilvergleiche nur in den größten und
kleinsten, nicht aber in den mittleren Kategorien möglich sind, ist unter
zwei Voraussetzungen zuzustimmen: a) daß man den Stilbegriff auf
den Zeitstil beschränkt, b) daß nur die von Moser zugrunde gelegten
Kategorien herangezogen werden. Beschränken wir uns aber nicht auf
diesen Stilbegriff und die wesentlich aus der bildenden Kunst erwach-
senen Kategorien, so ist eine stärkere Stilverwandtschaft nachweisbar.
Es wäre auch verwunderlich, wenn der eine, in allen Fällen künstle-
risch sich betätigende Menschengeist verschiedene, miteinander gänz-
lich unvergleichbare Werke schaffen sollte. Auch kann die scheinbare
Verschiedenheit der künstlerischen Anlagen bei Schaffenden in der
Musik und in anderen Künsten keine absolute sein, wie das Vorhan-
densein von Künstlerfamilien mit nur verschieden differenzierten Be-
gabungen beweist.
Erweitert man den Stilbegriff nur in Richtung auf den Materialstil,
so rückt allerdings eine Verwandtschaft in noch größere Ferne. In der
Musik wirken der Zeitfaktor, die Eigenschaften des Tonkontinuums
und der gebräuchlichen Tonskalen in akustischer und musikalischer
Hinsicht, die Eigenart der verwendeten Instrumente und der Singstim-
Die Künste kommen mir vor wie eine Reihe von Zimmern neben-
einander, die sehr verschiedenartig möbliert und von sehr verschie-
. denartigen Menschen bewohnt sind; es führt kaum eine Tür von
Zimmer zu Zimmer, aber in sie alle scheint die gleiche Sonne herein,
die sie bald alle von Osten, bald von Süd, bald von Westen mit Früh-,
Mittags- oder Abendlicht erfüllt. Wir wollen schon sehr zufrieden sein,
wenn es uns aus guter Kenntnis des einen Zimmers auch im andern
zu unterscheiden gelingt, wie viel vom jeweiligen Farbenbild auf die
Beleuchtung von außen kommt, wie viel den spezifischen Eigenton
ausmacht. Und betrachten wir den einzelnen Inwohner (die große
schöpferische Persönlichkeit), so ist es unendlich wichtiger zu wissen,
wie dieser selber aussieht, als welcher Beleuchtungsreflex zufällig von
außen her über seine Züge spielt. Freilich, mancher scheint nur im
Morgenlicht richtig zu stehen, mancher entfaltet erst im Abendschatten
alle Tiefen seiner Physiognomie — ohne Bild gesprochen: mancher
ist ein echtes Produkt seiner Zeit, mancher aber (und gewöhnlich trifft
dies gerade auf die Größten zu) steht als »Unzeitgemäßer«, als ein
großes »Dennoch« und »Trotzdem« kampflustig oder verbittert da.
Auch diese Oppositionskonstellationen stilistisch zu erfassen, ist eine
Hauptaufgabe aller allgemeinen Kunstwissenschaft.
Mitberichte.
Georg Anschütz:
Der Moserschen These, daß Stilvergleiche nur in den größten und
kleinsten, nicht aber in den mittleren Kategorien möglich sind, ist unter
zwei Voraussetzungen zuzustimmen: a) daß man den Stilbegriff auf
den Zeitstil beschränkt, b) daß nur die von Moser zugrunde gelegten
Kategorien herangezogen werden. Beschränken wir uns aber nicht auf
diesen Stilbegriff und die wesentlich aus der bildenden Kunst erwach-
senen Kategorien, so ist eine stärkere Stilverwandtschaft nachweisbar.
Es wäre auch verwunderlich, wenn der eine, in allen Fällen künstle-
risch sich betätigende Menschengeist verschiedene, miteinander gänz-
lich unvergleichbare Werke schaffen sollte. Auch kann die scheinbare
Verschiedenheit der künstlerischen Anlagen bei Schaffenden in der
Musik und in anderen Künsten keine absolute sein, wie das Vorhan-
densein von Künstlerfamilien mit nur verschieden differenzierten Be-
gabungen beweist.
Erweitert man den Stilbegriff nur in Richtung auf den Materialstil,
so rückt allerdings eine Verwandtschaft in noch größere Ferne. In der
Musik wirken der Zeitfaktor, die Eigenschaften des Tonkontinuums
und der gebräuchlichen Tonskalen in akustischer und musikalischer
Hinsicht, die Eigenart der verwendeten Instrumente und der Singstim-