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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft: Zweiter Kongreß für Ästhethik und allgemeine Kunstwissenschaft Berlin, 16.-18. Oktober 1924 — 19.1925

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Utitz, Emil: Der Charakter des Künstlers
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https://doi.org/10.11588/diglit.3819#0148

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DER CHARAKTER DES KÜNSTLERS. 141

wir es ihm nicht, wenn dieses Einleben »zu echt« wird, so wie es
auch peinlich berührt, wenn auf einem Maskenfeste eine vornehme
Dame der Gesellschaft eine Kokotte zu echt mimt. Ihr gewiß nicht
durch Reflexion erzeugter Zusammenklang mit der Rolle muß an einer
Stelle erfolgen, die weniger belastend ist: in der Stärke der Vitalität,
der Instinktungebrochenheit, dem Temperament. Oder Ironie betont
das Rollenhafte, überlegene Grazie lockert sie auf. Aber solche Ver-
schiebungen können ]ä die Rolle trüben. Da hilft bloß das Arbeiten
»an« der Rolle, oder ein Einfühlen, dem doch letzte Echtheit abgeht,
das immer noch Distanz wahrt gegenüber restlos-freudigem Einfühlen.
Das wohlige Plätschern »in« der schurkischen Rolle ist eben charakte-
rologisch unappetitlich, der Eindruck, daß der Betreffende in seinem
wahren Fahrwasser schwimmt. Und wie wird es bei dem Spiel »durch«
die Rolle? Da lebt sich wahrhaft schurkisches Wesen unverhüllt vor
uns aus. Uns packt vielleicht seine gefährliche Dämonie, die düstere
Glut seiner Affekte. Rutscht es aber ins Schmutzig-Niedrige herab,
wird es unerträglich: diesen Charakter vertragen wir nicht. Sicherlich;
ich bin der letzte, der eine Ethisierung der Charakterologie befür-
wortet. Ihr steht grundsätzlich keine sittliche Wertung zu. Aber um
die Charakterologie als Wissenschaft handelt es sich auch nicht, son-
dern um den unbestreitbaren Sachverhalt, daß sich in der Kunst nicht
der artistische Charakter allein erschließt, sondern daß wir immerfort
das echt Menschliche werten und auf diese Wertungen gar nicht ver-
zichten können. Daß aber dieses echt Menschliche sich gerade immer
im praktischen Haushalt zeigen soll, ist ein ganz willkürliches, spieß-
bürgerliches Dogma. Die Charakterologie des fürsorglichen Familien-
vaters ist nicht das Bezugssystem einer jeden möglichen Charaktero-
logie. Wenn wir uns aber einmal von diesem Glauben befreien — der
uneingestanden sehr tief eingewurzelt ist, — sehen wir weit unbefangener
das Problem, wie der artistische Charakter zur Struktur, zum Sinn-
gefüge der Gesamtpersönlichkeit sich verhält, und wieder umgekehrt.
Ich versprach einige einleitende Vorbemerkungen zu bieten, aber
schon sie zeigen deutlich, daß der einseitige Kultus des artistischen
Charakters zum Verständnis von Kunst und Künstler keineswegs hin-
reicht, daß wir durch ihn auf ganz abstruse Abwege getrieben werden.
Im Gegenteil: die gesamte Persönlichkeit in ihrer Menschlichkeit steht
in Frage. Nur sie bedingt den artistischen Charakter, wie dieser wieder
jene. Erst das genaue Studium der hier möglichen Formen leitet zur
echten Charakterologie des Künstlers; sonst machen wir entweder vor
der Kunst halt — das Schicksal zahlreicher älterer Versuche — oder
wir verstricken uns in leere Künstelei — die theoretische und vielfach
auch praktische Gefahr unserer Tage. Wir glauben doch ebenfalls
 
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