266 EDUARD ORTNER.
Maße zunehmen, als die Momente, welche die Vergegenwärtigung unter-
stützen, abnehmen. [I. Sie denkt an den Geliebten bei Tag und Nacht,
da nichts im Wege steht, stets an ihn zu denken; II. sie sieht die
Gestalt des Geliebten in der fernen Staubwolke und in dem nächtlichen
Wanderer, weil die Erscheinung der Illusion entgegenkommt; III. sie
hört die Stimme des Geliebten trotz des Rauschens der Welle und
des Schweigens im Haine, indem die Phantasie das hinzutut, was der
Wahrnehmung fehlt; IV. sie ist bei dem Geliebten, der in der Ferne
weilt, indem die Vorstellung des Ersehnten die gegensätzliche Wirklich-
keit überwindet.]
Ganz parallel dieser Anordnung des Bedeutungsmäßigen ist der
Aufbau der Ausdruckselemente. Auch hier geht nicht jedes Glied aus
dem vorhergehenden hervor, wie es einer realen Gefühlsäußerung ent-
sprechen würde. Es wiederholt sich vielmehr ganz spontan in allen
Halbstrophen die Ausdrucksbewegung der Sehnsucht; eine kontinuier-
liche, lange auf der Höhe sich haltende Bewegung, so wie sie z. B.
auch im Ausstrecken der Hände nach dem Ersehnten hin sichtbar
wird. Und wiederum ist die Differenzierung eine zweifache. In den ersten
Halbstrophen ist die Bewegung mehr ein aktives Erfassen und Fest-
halten, in den zweiten Halbstrophen mehr ein passives Hingezogen-
werden und Sichverlieren. Die Strophen hingegen zeigen eine fort-
schreitende Steigerung der Ausdrucksintensität, die sich in erster Linie
dynamisch äußert, vor allem aber melodisch sich darin ausspricht, daß
die ersten Halbstrophen zu immer höheren, die zweiten Halbstrophen
zu immer tieferen Schlüssen führen und so die Höhendifferenz der
Halbstrophenschlüsse eine immer größere wird.
Dieses Spannungswachstum fällt also mit demjenigen zusammen,
welches sich aus der Verstärkung der Vergegenwärtigungstendenz bei
gleichzeitiger Zunahme der sie hemmenden Momente ergibt. So kommt
es schließlich zum Bruch der Vorstellungswelt durch die Welt der
Wirklichkeit, und das Gedicht klingt in einen Seufzer aus, in welchem
das Verlangen nach dem Geliebten, das ausdrucksmäßig von Anfang
an herrscht, nun auch bedeutungsmäßig in Erscheinung tritt: »O wärst
du da!c Es Hegt hier also das vor, was ich vorhin das Phänomen der
lyrischen Inversion nannte.
Die lyrische Funktion der Strophe tritt in diesem Gedicht ebenfalls
besonders klar hervor. Schon durch die Wiederholung der Strophe, die
hier selbst durch Wiederholung des Halbteils gebildet wird, kommt
ein Wesentliches der Sehnsucht unmittelbar zum Ausdruck: die stete
Wiederkehr der Vorstellung dessen, was ersehnt wird. Zu dieser Auf-
fassung führt auch die konforme sprachliche Gestaltung in den einzelnen
Halbstrophen hin. Wenn nun aber der Aufbau durch Wiederholung
Maße zunehmen, als die Momente, welche die Vergegenwärtigung unter-
stützen, abnehmen. [I. Sie denkt an den Geliebten bei Tag und Nacht,
da nichts im Wege steht, stets an ihn zu denken; II. sie sieht die
Gestalt des Geliebten in der fernen Staubwolke und in dem nächtlichen
Wanderer, weil die Erscheinung der Illusion entgegenkommt; III. sie
hört die Stimme des Geliebten trotz des Rauschens der Welle und
des Schweigens im Haine, indem die Phantasie das hinzutut, was der
Wahrnehmung fehlt; IV. sie ist bei dem Geliebten, der in der Ferne
weilt, indem die Vorstellung des Ersehnten die gegensätzliche Wirklich-
keit überwindet.]
Ganz parallel dieser Anordnung des Bedeutungsmäßigen ist der
Aufbau der Ausdruckselemente. Auch hier geht nicht jedes Glied aus
dem vorhergehenden hervor, wie es einer realen Gefühlsäußerung ent-
sprechen würde. Es wiederholt sich vielmehr ganz spontan in allen
Halbstrophen die Ausdrucksbewegung der Sehnsucht; eine kontinuier-
liche, lange auf der Höhe sich haltende Bewegung, so wie sie z. B.
auch im Ausstrecken der Hände nach dem Ersehnten hin sichtbar
wird. Und wiederum ist die Differenzierung eine zweifache. In den ersten
Halbstrophen ist die Bewegung mehr ein aktives Erfassen und Fest-
halten, in den zweiten Halbstrophen mehr ein passives Hingezogen-
werden und Sichverlieren. Die Strophen hingegen zeigen eine fort-
schreitende Steigerung der Ausdrucksintensität, die sich in erster Linie
dynamisch äußert, vor allem aber melodisch sich darin ausspricht, daß
die ersten Halbstrophen zu immer höheren, die zweiten Halbstrophen
zu immer tieferen Schlüssen führen und so die Höhendifferenz der
Halbstrophenschlüsse eine immer größere wird.
Dieses Spannungswachstum fällt also mit demjenigen zusammen,
welches sich aus der Verstärkung der Vergegenwärtigungstendenz bei
gleichzeitiger Zunahme der sie hemmenden Momente ergibt. So kommt
es schließlich zum Bruch der Vorstellungswelt durch die Welt der
Wirklichkeit, und das Gedicht klingt in einen Seufzer aus, in welchem
das Verlangen nach dem Geliebten, das ausdrucksmäßig von Anfang
an herrscht, nun auch bedeutungsmäßig in Erscheinung tritt: »O wärst
du da!c Es Hegt hier also das vor, was ich vorhin das Phänomen der
lyrischen Inversion nannte.
Die lyrische Funktion der Strophe tritt in diesem Gedicht ebenfalls
besonders klar hervor. Schon durch die Wiederholung der Strophe, die
hier selbst durch Wiederholung des Halbteils gebildet wird, kommt
ein Wesentliches der Sehnsucht unmittelbar zum Ausdruck: die stete
Wiederkehr der Vorstellung dessen, was ersehnt wird. Zu dieser Auf-
fassung führt auch die konforme sprachliche Gestaltung in den einzelnen
Halbstrophen hin. Wenn nun aber der Aufbau durch Wiederholung