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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft: Zweiter Kongreß für Ästhethik und allgemeine Kunstwissenschaft Berlin, 16.-18. Oktober 1924 — 19.1925

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https://doi.org/10.11588/diglit.3819#0361

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354 RICHARD THURNWALD.

Die Mondscheinpoesie wird darum niemals aussterben und sie findet
sich fast bei allen Völkern. Der Unterschied besteht nur darin, daß
heute als gelungenes Bild oder Metapher gilt, was eine andere Welt
als zauberschwangeren Ernst empfand. Jener Zeit war der künstle-
rische Reiz gegenüber dem religiösen häufig nur sekundär, wo er uns
heute im Vordergrund steht.

Es ist übrigens bezeichnend, daß z. B. die bekannten orientalischen
Schwanke, Spottgedichte und verhöhnende Anekdoten vielfach an
alte Ansichten, an überwundene Glaubenssätze und Auffassungen
einer vergangenen Zeit anknüpfen und diese lächerlich machen.

Die Art Renaissance in primitivem Kunststil, die sich heute
geltend zu machen sucht, wird durch die oben umschriebenen Ge-
dankengänge in ihrer Auswirkung und in der Möglichkeit ihrer Wir-
kung begrenzt: je weniger sie durch die Unterschiede der veränderten
Technik oder durch die Aufdeckung geschlossener Ketten kausaler
Gedankenverbindungen von der Kunst der Urzeit geschieden wird,
desto mehr Aussicht besteht, daß sie, ohne als Pose zu erscheinen,
sich durchsetzt. Denn wir dürfen doch nicht vergessen, wie ganz
anders die kulturellen Voraussetzungen auf dem Gebiete der modernen
Technik und des analytischen Denkens für uns heute im Vergleich
zum urzeitlichen Leben geworden sind. Das Gebiet jedoch: 1. des
allgemein menschlichen, und 2. das der sinnfälligen Gedanken-
verknüpfung bleibt dauernd bestehen.

III. Ein Faktor, den die alte Entwicklungslehre vernachlässigt hatte,
liegt in der Ausbildung von Brennpunkten der Kultur und der
Ausstrahlung und Beeinflussung anderer Völker von solchen Zen-
tren aus. Dieser Umstand ist von großer Bedeutung sowohl für die
Gestaltung der Kunst, wie auch für die Wertung der Kunst und des
Stils. Die Kunst eines Volkes ist das Ergebnis mannigfach wirkender
Kräfte. Ebenso wie die alte ägyptische Kunst nach Syrien und Klein-
asien ausstrahlte, wohin auch wieder Einflüsse aus Babylonien drangen,
wie sich die Auswirkung Ägyptens in Afrika hie und da noch bis
heute geltend macht, so fanden auch von anderen Zentren, etwa vom
alten Mexiko, den Mayastaaten oder dem Inkareich, Auswirkungen auf
die Nachbarländer statt. — Im Leben unserer zeitgenössischen Einge-
borenen drängt sich jedem Beobachter die Gewalt der sozialen Sug-
gestion auf, die sowohl Geschmacksrichtung wie auch Kunst-
gestaltung in Bann schlägt. So gelten bei dem einen Stamm zum
Beispiel nur große blaue Glasperlen als schön, bei dem anderen nur
kleine rote, bei einem dritten vielleicht mittelgroße weiße. Das eine
Dorf will nur kurze rote Lendentücher, das andere lange weiße, die
einen sind begeistert von Holzpfeifen, die anderen von Tonpfeifen.
 
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