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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft: Zweiter Kongreß für Ästhethik und allgemeine Kunstwissenschaft Berlin, 16.-18. Oktober 1924 — 19.1925

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https://doi.org/10.11588/diglit.3819#0413

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406 GERHARD VON KEUSSLER.

will, daß sie sich vielmehr als ein natürliches Menschenkind, als eine
sinnlich gesunde Gärtnerin zu erkennen gegeben hat, die in den Harem
des Königs gebracht wurde und vom Geliebten — einer ebenfalls dra-
matisch leibhaftigen Gestalt — befreit wird, seitdem kann allerorts ver-
nünftig über die kompositorische Technik in Palestrinas Hohem Lied
gesprochen werden. Unbeanstandet darf man sich nunmehr über den
illustrativen Humor unterhalten, mit dem Palestrina den Geliebten sich
sputen läßt, bei Nacht erwartet, der Gazelle gleich über die Hügel
hüpfend. Daß dieser Geliebte in den Augen Palestrinas niemals der
Kirchenbräutigam Christus gewesen ist, erhellt aus den verschieden-
sten Szenen, nicht bloß aus der Motette Pulchrae sunt genae tuae. —
Palestrinas Vorrede zum ganzen Werk ist als eine konventionelle Wid-
mung an den Papst zu bewerten.

Charakterologisch grundsätzlich beschäftigt uns hier im allgemeinen
die persönliche Einschaltung des Komponisten auf den kirchlichen Stoff.
Gar vielen Messenkomponisten merkt man es am Credo an, daß sie
des Weges nicht aus Nicäa kommen. Die artistische Lust am musi-
kalischen Illustrieren überwiegt oft jede Rücksicht auf die liturgische
Einstimmung. Tendenz und Zweck stehen eben im Widerstreit. Wer
zur Verherrlichung von »Gottes Schutz in der Gefahr« den Jonas kom-
poniert und dabei drei Viertel des Werkes nebensächlichsten Um-
ständen und profansten, wenngleich illustrativ reizvollen Begeben-
heiten widmet — bis zum Ausspeien des Fisches »et evomuit Jonam,

evomuit, evomuit, evo------muit« — der schreibt nur mit verschmitztem

Bewußtsein hinter den Finaltakt die kirchenübliche Kunstwidmung: In
majorem Dei gloriam!

Über die dogmatisch-persönliche Einschaltung der bedeutenden
Kirchenkomponisten liegen ihrerseits keinerlei ästhetisch verbindliche
Bekenntnisse vor, am wenigsten aus dem entscheidenden 16. Jahrhun-
dert. Immerhin können wir das einschlägige Bild am ehesten an Pale-
strina nachzeichnen. Will man Palestrinas persönliche Stellung zum
musikalischen Kirchendienst beurteilen, so hat man — außer den Kom-
positionen selbst — zwei geschichtlich mittelbare Kriterien. Erstens das
Vertrauen, das ihm die oberste kirchenmusikalische Behörde entgegen-
brachte, indem sie ihn — neben Zoilo — zur Erfüllung der Trienter
Reformwünsche beauftragte; und zweitens die Tatsache, daß Palestrina
bald eine merkliche Gleichgültigkeit an den Tag gelegt hat. Die ganze
Choralreform hat von 1578 bis zum Tode Palestrinas, 1594, und dar-
über hinaus — bis 1611 — eine schlimme Arbeitspause zu erleiden
gehabt. Und daß auch die wenigen Meister, die schließlich für die
Vollendung der Choralreform als geeignet befunden wurden, kirchlich
versagten, — all dies zeigt, daß die fraglichen Kirchenkomponisten für
 
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