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Zeitschrift für christliche Kunst — 10.1897

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Rieffel, Franz: Grünewald-Studien, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3832#0034

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1897. _ ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 2.

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stumpf und aufgeworfen. Der Mund klein, die
Lippen sehr kräftig. Das oft sehr bizarr de-
tail] irte Ohr hat fast durchweg ausgesprochen
henkelartige Form mit langem Ohrläppchen.
Die Haarbehandlung ist locker und frei. Die
Aehnlichkeit mit dürerischen Gesichtstypen ist
nicht grofs, ganz undürerisch sind der Christus-,
der breite Magdalenentypus und der kurz-
lockige Johanneskopf. Der Letztere nähert
sich entschieden niederländischen Vorbildern
(Roger van der Weyden).

Hände und Füfse: Für die Hand wechseln
zwei Grundformen, eine kürzere, breitere, derbe
und eine feine, schmale, flache, knochige, lang-
fingrige, sich zuspitzende Form. Der Daumen
besonders zeichnet sich durch zu grofse Länge
aus; er ist vom Wurzelknochen an konkav ein-
gebogen. Aber auch der kleine Finger ist ge-
wöhnlich viel zu lang und oft unnatürlich
knochenlos gekrümmt. Die innere Handfläche
zeigt die Muskeln an der Handwurzel sehr
entwickelt und wie durch eine Linie von
einander geschieden; besonders die sogenannte
Maus (unterhalb des inneren Daumens) ist sehr
kräftig. Das Handgelenk ist sehr schmal. Merk-
würdig ist die undulirende Tendenz in Hand-
und Fingerform. Die Füfse sind durchweg sehr
lang, flach und schmal; die Zehen, besonders
die grofse, gleichfalls recht lang, der Nagel der
grofsen Zehe regelmäfsig sehr kurz geschnitten.
Die Fufsballen unter den Zehen und die Füfse
stark accentuirt.

Die Körper sind vortrefflich gebildet, hager,
Knochen- und Muskeltheile kräftig hervorge-
hoben. Besonders im Detail durchgeführt sind
die Kniepartien, die Kniekugeln ungewöhnlich
spitz, selbst bei gestreckten Beinen; ähnlich
die Ellenbogen. Die Muskeln des Arms, be-
sonders des Unterarms überaus stark, so dafs
in der Ellenbogengegend oft eine förmliche
Einschnürung entsteht.

Beachtung verdient die glückliche und
spezialisirende Charakteristik und der reife,
überlegene Humor des Malers. Dieser äussert
sich z. B. sehr ergötzlich auf der Darstellung
Christi im Tempel in der zoologischen Parallele
des Pudels zu dem struwelköpfigen Schrift-
gelehrten zu hinterst links und der Meerkatze
zu dem verdrossen brütenden zu vorderst
rechts.

Die Sprache und Bewegung der Glieder, zu-
mal der Hände, ist nicht allein überall wohl

verstanden und deutlich, sondern auch voll
intensiver Empfindung.

Der Faltenwurf ist breit, mehr bauschig als
knittrig und verräth Neigung zum Zipfeln und
Flattern. Eine grofszügige Falte wird bisweilen
durch eine kräftige Querfalte unterbrochen. Kleine
Parallelfalten, namentlich diagonal verlaufende,
sind beliebt.

Lebendes und todtes Beiwerk: Die Thiere
sind individuell und von überraschender Natur-
wahrheit. (Dagegen vergleiche man Schäuffe-
leins Thier-Automaten!) Das übrige Beiwerk
(Steine, Pflanzen, Geräthe, Waffen) sorgfältig
durchgearbeitet. Charakteristisch sind die stei-
nernen Thronstühle, deren Rücken- und Seiten-
lehnen von spätgothischen Blattknäufen gekrönt
sind, die zwei grofsen aufgeschlagenen Codices,
der grüne Vorhang, der auf der Beschneidung
einen kleineren Raum in der Kapelle für die
Handelnden abschliefst. Den Nimbus Christi
ziert allemal das Lilienkreuz.

Ein wichtiges Kriterium (im Gegensatz zu
Dürer und den Seinigen) ist die Kleinräumig-
keit der Bühne des Vorgangs, in Folge wovon die
Valeurs der Figuren sich heben und die Auf-
merksamkeit des Beschauers von den handeln-
den Personen nicht abgelenkt wird. Die Land-
schaft wirkt durch ihre wenigen, einfachen
Linien immer so stimmungsvoll ausdeutend und
stützend, wie eine gute Klavierbegleitung zu
einem Lied. Weitere Ausblicke finden sich
nur auf den zwei letzten Bildern der Folge
(Stadt am Wasser), aber auch hier nur neben-
her; die Dominante der Landschaft ist auch
auf ihnen die dicht hinter den Handelnden
anhebende Berghalde. Dies gleichfalls im Ge-
gensatz zu Dürer und seinen Schülern. Gern
ist eine ungefähr diagonal verlaufende, den
Mittelgrund beinahe abschliefsende Koulisse
verwandt, die nach der anderen Seite nur
Atmosphäre und ein kleines Stück Hintergrund
offen lässt.

Die Zeichnung ist, kleine Verfehlungen aus-
genommen (z. B. beim Magdalenenkopf auf der
Kreuzigung) sicher, die Verkürzungen oft hervor-
ragend geschickt, ebenso wie die Modellirung.
Die Farben sind sehr massig aufgetragen, kleine
Pentimenti (der obere Thürbeschlag auf der Dar.
Stellung des Christus im Tempel z. B.) durchge-
wachsen. Die Konturen sind meist dunkelbraun
umrissen. Einiges hat der Maler koloristisch sehr
pikant gemacht, namentlich die Modellirung des
 
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