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Zeitschrift für christliche Kunst — 31.1918

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Wurm, Alois: Die Entstehung des nazarenischen Heiligentypus
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https://doi.org/10.11588/diglit.4276#0040

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Nr. 3/4 ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST.

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einer gewissen seelischen Lyrik durch, und der milde fromme Gesamtton wird
dadurch nicht gestört. Diese religiöse Woge neigt dann gern die Köpfe in seelisch
bewegter frommer Anmut, wie in der vornehm, fast graziös empfundenen Gestalt
der Theodora, die ihrem erblindeten Gatten den Weg weist (Wilpert,Mal.Taf.240),
oder in dem Diakon zur Rechten des hl. Klemens im selben Bilde, und in der Über-
tragung der Gebeine des hl. Klemens geht es wie eine einheitliche fromme Bewegung
durch die Köpfe der Menge (Wilpert, Mal. Taf. 239. Freilich ist dies Bild stark
erneuert). In dieser Bildergruppe von S. Clemente finden wir also unseren Typus
in reicher Ausbildung vor. Der neue Lebensrhythmus ist vollendet.

Wir haben oben gesehen, daß dies neue Lebensgefühl nicht ohne Körperlichkeit
denkbar ist. Es ist nun merkwürdig, wie der Künstler dieser Fresken in S. Clemente
den Eindruck körperlichen Lebens vermittelt. Auch er stand natürlich unter der
Wirkung des weitgehenden Verlustes der von der Antike geschaffenen und lange
forterhaltenen Körperkenntnis, wie er im Laufe des VIII. und IX. Jahrh. sich ein-
gestellt hatte. Die Werke der Alten nutzte dieser Künstler zur Erneuerung jeden-
falls nicht oder in kaum nennenswertem Grade. Er folgte der Bewegung,
die sich wieder an die Natur und das Leben selbst wandte. Diesem hat er
Linien voller neuer Lebendigkeit abgelauscht. Damit Hand in Hand geht
aber eine im allgemeinen noch sehr große Unkenntnis des Körpers, die in-
dessen in diesen bewegteren Szenen der rhythmische Flächenstil dieses
Künstlers nicht so sehr hervortreten läßt, der so sehr zu dem gehaltenen
seelischen Ton des Ganzen paßt. Gewiß ließ sich die Körperhaftigkeit über
dieses doch noch sehr lineare Maß heraus steigern, und sie ist nachmals
darüber hinaus gesteigert worden. Aber ebenso gewiß gehört es zu diesem Typus,
die konkrete Körperhaftigkeit nicht allzu kräftig zu entwickeln. Denn die sanfte
fromme Seelenmelodie mußte darin verrinnen, während sie doch die Dominante
der Einzelfigur und des Ganzen bilden soll. Aus dem gleichen Grunde ergibt sich,
daß eine scharfe und energische Individualisierung (man denke etwa an Donatello)
dieser religiösen Gesamtstimmung keineswegs förderlich ist. Auf der anderen Seite
darf man sich nicht wundern, daß die antike Größe, das Heroische, das die alte
große Kunst durchweg auszeichnete, hier nicht mehr anzutreffen ist. Wo die Welt
der zarteren menschlichen Empfindungen in Bewegung gerät, muß es mit der Größe,
dem Heroischen zu Ende sein. Diese hat freilich zu dieser Zeit noch nicht aus-
gespielt. Aber in der Bewegung, die wir verfolgt haben, hat sie keine Stelle.

Es wäre verlockend zu zeigen, wie dieser von der christlichen Gemeinschaft
relativ früh geschaffene Typus sich weiter entfaltet in den Mosaiken von S. Maria
Maggiore um die Wende des XIII. zum XIV. Jahrh. und in der Franz-Legende
der Oberkirche von Assisi, wie er weiter wirkt in Umbnen, Toskana, Frankreich
und Deutschland, wie es im XV. Jahrh. allmählich mit ihm zu Ende geht, wie er
Jahrhunderte begraben bleibt und im Nazarenertum wieder aufersteht. Man würde
sehen, wie er durch die Begnadung eines Stammes, einer Rasse nunmehr religiös
vertieft, nun weicher und zarter wird, wie die feine höfische und die derbere bürger-
liche Kultur ihm mitspielen, wie schließlich sein zart-frommer seelischer Organismus
der robusten Kraft des induviduellen Willensmenschen und der derberen konkreten
Wirklichkeit erliegen. Allein es mag genügen, seine Werdezeit etwas aufgelichtet
zu haben.

München. Alois Wurm.
 
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