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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 4.1906

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Watts, George F.: Was soll uns ein Bild sagen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.4390#0021

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WAS SOLL UNS
EIN BILD SAGEN?

VON

G. F. WATTS

Im es einmal ohne jeden Aufputz zu
■ sagen: man muss ein Bild betrachten
wie ein geschriebenes Wort. Das Bild
muss zum Beschauer sprechen und ihm
i etwas zu sagen haben. Wenn z. B. der
Künstler Natureindrücke wiedergeben möchte:
Wolken, Blumen, das Meer, so sollte niemand mehr
imstande sein, wieder ganz mit dem gleichen Auge
auf die Wolken, Blumen, das Meer zu schauen wie
einst, ehe er jenes Bild zu Gesicht bekam. Der
Künstler sollte ihm eben mehr von all dem zu sagen
wissen als der Beschauer selbst je davon zu sehen
vermöchte.

Der gewöhnliche Beschauer vermengt alles mit-
einander; er erwartet aus jedem einzelnen Bilde alles
und jedes für sich entnehmen zu können. Aber nie-
mand erwartet in einem Märchen ernsthafte Ge-
schichte vorgetragen zu hören noch in wissenschaft-
lichen Abhandlungen Erzählungen zu finden. Mit
Bildern ist es grade so bestellt. Wenn ein Bild nichts
anderes will als etwas darstellen, so muss man es von
diesem Standpunkt und nur von diesem Standpunkt
betrachten und wenn es einen historischen Vorgang
behandelt, so überlege man, ob es seine Erzählung
recht und gut vorträgt. Doch es giebt noch eine
andere Art Gemälde, deren Zweck es ist, Ideen und
Gefühle zu übermitteln. Ein solches Gemälde darf
man nicht als eine wirkliche Darstellung irgend
welcher Thatsachen betrachten, sondern es gehört

zur gleichen Kategorie wie Träume, Visionen, kühn
schweifendes Hoffen, und es wird uns da nichts
Körperhaftes, nichts Deutliches gegeben ausser dem
Gefühl und der Idee, die der Künstler durch den
Gesamteindruck in uns hervorbringt.

Der Künstler spricht ebenso mit Tönen wie der
Musiker. Wir haben die Musik der Ballade und
die des Oratoriums, die der Hymne wie die der
Oper; eine jede ist wahre Musik, aber man darf
die verschiedenen Arten nicht miteinander ver-
wechseln und vermengen; und so giebt es auch
viele Arten von Gemälden. Der Beschauer sollte
vor allem erst einmal zusehen, was denn der Künstler
sagen will, und dann mag er, gefällt sie ihm nicht,
die Sprache kritisieren, die der Künstler anwandte.
Man sollte das Publikum lehren auf diese Sprache
zu achten, auf die „Technik", wie sie genannt wird,
ebenso sehr wie auf die Idee des Bildes. In einer
Landschaft soll man auf Harmonie ausgehen; die
Farbentöne sollten beachtet werden: wie ein Ton
mit dem anderen verschmilzt, wie scharfe, harte
Kontraste vermieden sind, wie durch die Atmo-
sphäre Einheit in das Bild getragen wird, wie da-
durch die Linien, die das Gebilde vorstellen, in das
rechte, beruhigende Verhältnis zu einander gebracht
werden. Es giebt Kontraste in der Natur, die in einem
Bilde anstössig wirken müssten, in der Natur aber
haben sie keine solche Wirkung, weil da derEindrücke
so viele sind, weil da die grosse, ewige Harmonie

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