DIE ZEIT DES ÄLTEREN PARTHENON
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scheint mir klar : demselben souveränen Geiste, der ohne
jede Rücksicht auf ältere Heiligtümer, alte Wege und Terrain-
verhältnisse das grossartige Projekt der Propyläen entworfen
hat, ist auch der revolutionäre Gedanke entsprungen, den alten
Athena-Tempel, der seit unvordenklichen Zeiten an derselben
Stelle gestanden und das alte Cultbild bewahrt hatte, mit dem
Poseidon - Erechtheus - Tempel und den uralten Cultmalen zu
einem einzigen prächtigen Marmorbau, dem «Tempel für das
alte Cultbild», zu vereinigen und den alten hochheiligen Tem-
pel selbst nach Fertigstellung des Neubaues abzubrechen. Par-
thenon, Erechtheion und Propyläen gehören zu einem einheit-
lichen grossartigen Plane, dessen Entwurf wir dem Zusammen-
wirken eines Perikies und eines Pheidias verdanken. Im Lichte
dieser Erkenntnis Avird man auch die von mir längst für gesi-
chert gehaltene Tatsache, dass der alte Tempel nach der Vol-
lendung des Neubaues nicht abgebrochen und das uralte Bild
nicht in den Neubau hinübergeschafft wurde, anders beurtei-
len, als es bisher gewöhnlich geschieht. Auf diesen Punkt
hier näher einzugehen, muss ich mir versagen ; doch mag hin-
zugefügt werden, dass ich einige neue Beweise hierfür beizu-
bringen vermag, die ich demnächst veröffentlichen werde.
Hat somit Perikies den Plan zur Wiederherstellung der von
den Barbaren zerstörten Heiligtümer erst dann entworfen und
teilweise zur Ausführung gebracht, als diese Tempel schon ein
Menschenalter hindurch in Ruinen geblieben oder nur not-
dürftig repariert Avorden Avaren, so fällt ein neues Licht auf
den von späteren Schriftstellern überlieferten merkwürdigen
Eid, den die Jonier oder auch alle Hellenen Avährend der Per-
sernot geschAVoren haben sollen, nämlich den Eid, alle von
den Barbaren verbrannten und zerstörten Heiligtümer zur Erin-
nerung an diesen Frevel unaufgebaut liegen zu lassen (vgl.
F. Koepp Jahrb. d. Instituts 1890 S. 271 und W. N. Bates,
Harvard Studies XII S. 319). Offenbar hat die Tatsache, dass
die Tempel AA'irklich so lange unaufgebaut liegen geblieben siud,
in Verbindung mit dem envähnten Anträge des Perikies auf
Wiederaufbau der Heiligtümer die Veranlassung zur Erfindung
des Eides gebildet. Denn so Avar eine Begründung für jene
den Späteren unerklärliche Tatsache gefunden. Hätte schon
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scheint mir klar : demselben souveränen Geiste, der ohne
jede Rücksicht auf ältere Heiligtümer, alte Wege und Terrain-
verhältnisse das grossartige Projekt der Propyläen entworfen
hat, ist auch der revolutionäre Gedanke entsprungen, den alten
Athena-Tempel, der seit unvordenklichen Zeiten an derselben
Stelle gestanden und das alte Cultbild bewahrt hatte, mit dem
Poseidon - Erechtheus - Tempel und den uralten Cultmalen zu
einem einzigen prächtigen Marmorbau, dem «Tempel für das
alte Cultbild», zu vereinigen und den alten hochheiligen Tem-
pel selbst nach Fertigstellung des Neubaues abzubrechen. Par-
thenon, Erechtheion und Propyläen gehören zu einem einheit-
lichen grossartigen Plane, dessen Entwurf wir dem Zusammen-
wirken eines Perikies und eines Pheidias verdanken. Im Lichte
dieser Erkenntnis Avird man auch die von mir längst für gesi-
chert gehaltene Tatsache, dass der alte Tempel nach der Vol-
lendung des Neubaues nicht abgebrochen und das uralte Bild
nicht in den Neubau hinübergeschafft wurde, anders beurtei-
len, als es bisher gewöhnlich geschieht. Auf diesen Punkt
hier näher einzugehen, muss ich mir versagen ; doch mag hin-
zugefügt werden, dass ich einige neue Beweise hierfür beizu-
bringen vermag, die ich demnächst veröffentlichen werde.
Hat somit Perikies den Plan zur Wiederherstellung der von
den Barbaren zerstörten Heiligtümer erst dann entworfen und
teilweise zur Ausführung gebracht, als diese Tempel schon ein
Menschenalter hindurch in Ruinen geblieben oder nur not-
dürftig repariert Avorden Avaren, so fällt ein neues Licht auf
den von späteren Schriftstellern überlieferten merkwürdigen
Eid, den die Jonier oder auch alle Hellenen Avährend der Per-
sernot geschAVoren haben sollen, nämlich den Eid, alle von
den Barbaren verbrannten und zerstörten Heiligtümer zur Erin-
nerung an diesen Frevel unaufgebaut liegen zu lassen (vgl.
F. Koepp Jahrb. d. Instituts 1890 S. 271 und W. N. Bates,
Harvard Studies XII S. 319). Offenbar hat die Tatsache, dass
die Tempel AA'irklich so lange unaufgebaut liegen geblieben siud,
in Verbindung mit dem envähnten Anträge des Perikies auf
Wiederaufbau der Heiligtümer die Veranlassung zur Erfindung
des Eides gebildet. Denn so Avar eine Begründung für jene
den Späteren unerklärliche Tatsache gefunden. Hätte schon