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Verein für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung [Hrsg.]
Annalen des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung — 27.1895

DOI Artikel:
Otto, Friedrich: Goethe in Nassau
DOI Artikel:
II. 1765
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.70471#0068

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56

Liebe Schwester.
Damit du nicht glaubest ich habe dich unter den schwärmenden
Freuden eines starck besuchten Bades gantz vergessen; so will ich dir,
einige absonderliche Schicksaale, die mir begegnet, in diesem Briefgen,
zu wissen thun. Dencke nur wir haben allhier Schlangen, das hässliche
Ungeziefer macht den Garten, hinter unserm Hause, gantz unsicher.
Seit meinem Hierseyn, sind schon 4 erlegt worden. Und heute, lass
es dir erzählen, heute morgen, stehen einige Churgäste und ich auf
einer Terasse, siehe da kommt ein solches Thier mit vielen gewölbten
Gängen durch das Grass daher, schaut uns mit hellen funckelnden Augen
an, spielt mit seiner spitzigen Zunge und schleicht mit aufgehabenem6)
Haupte immer näher. Wir erwischen hierauf die ersten besten Steine
warfen auf sie loss und traffen sie etliche mahl, dass sie mit Zischen
die Flucht nahm. Ich sprang herunter, riss einen mächtigen Stein
von der Mauer und warf ihr ihn nach, er traf und erdrückte sie,
worauf wir über dieselbe Meister wurden sie aufhängeten und zwey
Ellen lang befanden. Neulich verwirrten wir uns in dem Walde, und
mussten 2 Stundenlang in selbigem, durch Hecken und Büsche durch-
kriechen. Bald stellte sich uns ein umschatteter Fels dar, bald ein
düstres Gesträuch und nirgends war ein Ausgang zu finden. Gewiss
wir wären biss in die Nacht gelaufen; wenn nicht eine wohlthätige
Fee hier und da, an die Bäume Papagey Schwänze (:die aber unsere
kurzsichtige Augen für Strohwische ansahen:) den rechten Weg uns
zu zeigen gebunden hätte, da wir dann glücklich aus dem Walde
kamen. Dein Briefgen vom 19. Mai war mir sehr angenehm. Inliegen-
den Brief lass Augenblicklich dem Pog zustellen. Lebe wohl. Küsse
Jf. M. von meinetwegen die Hand.
Wisb. d. 21. Jun. 1765. G.
Jf. M. ist sicherlich die Fräulein Charitas Meixner von Worms, eine
Freundin der Cornelie, die sich damals ihrer Ausbildung wegen zu Frankfurt
aufhielt und in dem Hause des Legationsrates Moritz, eines Hausfreundes der
Familie Goethes, wohnte.6) Wer unter Pog gemeint ist, bleibt zweifelhaft;
wenn es Papa gelesen werden müsste, so wäre das „lass . . zustellen“ ein
unpassender Ausdruck statt „übergib.“ — Unter dem Walde, in welchem die
Wanderer sich verirrten, haben wir denjenigen zu verstehen, welcher sich über
den Bergabhang unterhalb der Platte hinzieht und jetzt meistenteils ein anderes
Gepräge zeigt, namentlich viele mittlerweile angelegte Spaziergänge bietet.
Welcher Art die in dem Briefe erwähnte Schlange angehört, ist nach
Goethes Worten nicht zu erraten. In Nassau gibt es verschiedene Arten von
Schlangen, die Kirschbaum in der Abhandlung „Die Reptilien und Fische des
Herzogtums Nassau“, Programm des Gymnasiums zu Wiesbaden 1859, aufzählt.
6) Aufgehaben, alt statt aufgehoben. Grimm, D. W. I, Sp. 663. — 6) Über sie gibt
K. Goedeke, Grundriss IV 2, S. 575, 72 einige Litteratur an.
 
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