Baumeister: das Architektur-Magazin — 2.1904
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https://doi.org/10.11588/diglit.49990#0037
DOI issue:
Heft 3 (1903, Dezember)
DOI article:Kirchbach, Wolfgang: Das Fenster: eine architektonische Geschmacksbetrachtung, [2]
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DER BAUMEISTER * 1903, DEZEMBER.
29
genügend Ausschau haben will, von aussen auch genügend Luft
und Licht, aber doch nicht so viel, dass die dominierende Selbst-
ständigkeit der Wand dadurch aufgehoben würde. Es ist nicht
mehr und nicht weniger gethan, als was zum Zwecke taugt. Die
Raumfelder zwischen den Fenstern sind am Palazzo Strozzi und
Medici breit genug, um auszusprechen, dass sie noch die Wand
selbst sind, die hier zugleich als tragender Pfeiler ausgenutzt ist,
um die ganze Last der darüberfolgenden Wand aus sich heraus zu
stützen. Man wird beobachten, dass am Palazzo Strozzi die kraft-
strotzende, energische Physiognomie des Baues aus der grossen
Mauermasse sich herleitet, die noch über den Fenstern der oberen
Stockwerke liegt. Das Verhältnis der Fensterhohlräume zu den
darüberlie-
genden
Werksteinen
ergiebt, dass
der Fussbo-
den der
Stockwerke
noch be-
trächtlich
über den
Strahlenbo-
gen liegt, wel-
che die Keil-
konstruktion
der Fenster-
höhen mar-
kieren. Damit
Menschen in
halber Lei-
beshöhe
oben zu die-
sen Fenstern
heraussehen
können, em-
pfinden wir
unwillkürlich,
wie hoch
Decke und
Fussboden
der Stock-
werke liegen
müssen und
hier finden
wir denn ein
Verhältnis,
das geradezu
auch wieder
einen mora-
lischen Cha-
rakter des
Bauwerks
ausspricht,
die innere
stolze Abge-
schlossen-
heit der Be-
wohner zur
Aussenwelt versinnlicht und ihnen doch ermöglicht, mit Herrscher-
blick im Fensterrahmen zu erscheinen und von ihrer steinernen
Stadtburg aus gewissermassen durch den Rahmen ihrer Fenster
selbst dominierend zu wirken, als wäre der Fensterbogen mit
seinem steinernen Diadem auch ein Diadem der Herren des
Hauses selbst.
Dieses Moment nun, dass wir unbewusst den Menschen und
den Umstand, wie er sozusagen mit aus dem Fenster schauen
wird, bei unsern Empfindungen den ästhetischen Raumwirkungen
im Verhältnis zur Mauermasse und Fensterhöhe zu gründe legen,
hat einen grossen Anteil am wohnlichen oder unwohnlichen
Eindruck eines Bauwerkes. Mit mathematischen Zahlen lässt
sich dieses Incommensurable nicht berechnen und die schönsten
Konstruktionen danach würden am fertigen Bau sich als ebenso
trügerisch beweisen wie etwa der „goldene Schnitt“ an einer
„Sixtinischen Madonna“. Die Durchschnittshöhe des Menschen
kennen wir und daraus berechnet man und kann der Architekt
ja vieles berechnen, aber für die ästhetische Wirkung bleibt
es doch ganz dem Auge des Baumeisters selbst überlassen,
zu empfinden, welchen Eindruck die verschiedenen Distanzen
der Fenster voneinander zu ihrem Hohlraum, ihrer Höhe, ihrer
Form und ihren konstruktiven physikalischen Momenten machen.
Bewundernswürdig ist an einem Meister wie Sansovino das
lebendige organische Gefühl für das unbewusste Hereinspielen
der Menschengestalt als Massstab in die Fensterwirkung und
in die organische Gliederung der Fenster, bewundernswert sind
einzelne Meister der Gotik und Renaissance verfahren, aber
abzirkeln
konnten sie,
bei noch so
bewussten
Baugrund-
sätzen, die-
ses Unbe-
rechenbare
nicht, denn
zum charak-
tervollen Ein-
druck eines
Baues durch
seine Fenster
gehört die
Mitempfin-
dung desMa-
terials, indem
er erbaut ist.
Ganz andere
Fensterfor-
men und Ge-
stalten trägt
in sich der
Ziegelbau,
ganz andere
der massive
Bau in Sand-
stein, Mar-
mor, Kalk-
stein, und
wenn die
herausschau-
ende Men-
schengestalt
im Ziegel-
wohnhaus
eines behag-
lichen Fami-
lienheims mit
Garten und
Park einen
ganz anderen
Eindruck
machen will,
als wenn der
König ans
Fenster oder auf den Balkon seines Schlosses tritt, so spielt auch
die Vereinigung vom Charakter des Materials mit dem Zweck der
Fenster zum Menschenwesen eine ausschlaggebende Geschmacks-
rolle. Z. B. wenn in einem hohen gotischen Kirchturmfenster oder
unter einem Schifffenster der Mensch ganz zum kleinen, demütigen
Wesen einschwindet, das gegenüber dem Unendlichen der Religion
nur als ein vergänglich Kleines wirken soll. Aber eben weil
diese Wirkung unfehlbar erzielt wird, empfinden wir so manches
gotische Schmalfenster in den Türmen oder auch an den Kirchen-
schiffen als etwas Überzeugendes, etwas, das ganz einem mora-
lischen Zwecke dient, das Licht oder farbige Dämmerung schmal
und hoch hereinlässt, um den Menschen in einer besonderen
Stimmung seines Verhältnisses zu dem Unendlichen, seiner
Relation zu Raum und Zeit zu erhalten. Und eben mit Raum-
mitteln, wie der Fensterraum eines ist, wird die Empfindung
Äusseres der Alhambra. Aus : Uhde, die Konstruktionen und Kunstformen^etc.
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genügend Ausschau haben will, von aussen auch genügend Luft
und Licht, aber doch nicht so viel, dass die dominierende Selbst-
ständigkeit der Wand dadurch aufgehoben würde. Es ist nicht
mehr und nicht weniger gethan, als was zum Zwecke taugt. Die
Raumfelder zwischen den Fenstern sind am Palazzo Strozzi und
Medici breit genug, um auszusprechen, dass sie noch die Wand
selbst sind, die hier zugleich als tragender Pfeiler ausgenutzt ist,
um die ganze Last der darüberfolgenden Wand aus sich heraus zu
stützen. Man wird beobachten, dass am Palazzo Strozzi die kraft-
strotzende, energische Physiognomie des Baues aus der grossen
Mauermasse sich herleitet, die noch über den Fenstern der oberen
Stockwerke liegt. Das Verhältnis der Fensterhohlräume zu den
darüberlie-
genden
Werksteinen
ergiebt, dass
der Fussbo-
den der
Stockwerke
noch be-
trächtlich
über den
Strahlenbo-
gen liegt, wel-
che die Keil-
konstruktion
der Fenster-
höhen mar-
kieren. Damit
Menschen in
halber Lei-
beshöhe
oben zu die-
sen Fenstern
heraussehen
können, em-
pfinden wir
unwillkürlich,
wie hoch
Decke und
Fussboden
der Stock-
werke liegen
müssen und
hier finden
wir denn ein
Verhältnis,
das geradezu
auch wieder
einen mora-
lischen Cha-
rakter des
Bauwerks
ausspricht,
die innere
stolze Abge-
schlossen-
heit der Be-
wohner zur
Aussenwelt versinnlicht und ihnen doch ermöglicht, mit Herrscher-
blick im Fensterrahmen zu erscheinen und von ihrer steinernen
Stadtburg aus gewissermassen durch den Rahmen ihrer Fenster
selbst dominierend zu wirken, als wäre der Fensterbogen mit
seinem steinernen Diadem auch ein Diadem der Herren des
Hauses selbst.
Dieses Moment nun, dass wir unbewusst den Menschen und
den Umstand, wie er sozusagen mit aus dem Fenster schauen
wird, bei unsern Empfindungen den ästhetischen Raumwirkungen
im Verhältnis zur Mauermasse und Fensterhöhe zu gründe legen,
hat einen grossen Anteil am wohnlichen oder unwohnlichen
Eindruck eines Bauwerkes. Mit mathematischen Zahlen lässt
sich dieses Incommensurable nicht berechnen und die schönsten
Konstruktionen danach würden am fertigen Bau sich als ebenso
trügerisch beweisen wie etwa der „goldene Schnitt“ an einer
„Sixtinischen Madonna“. Die Durchschnittshöhe des Menschen
kennen wir und daraus berechnet man und kann der Architekt
ja vieles berechnen, aber für die ästhetische Wirkung bleibt
es doch ganz dem Auge des Baumeisters selbst überlassen,
zu empfinden, welchen Eindruck die verschiedenen Distanzen
der Fenster voneinander zu ihrem Hohlraum, ihrer Höhe, ihrer
Form und ihren konstruktiven physikalischen Momenten machen.
Bewundernswürdig ist an einem Meister wie Sansovino das
lebendige organische Gefühl für das unbewusste Hereinspielen
der Menschengestalt als Massstab in die Fensterwirkung und
in die organische Gliederung der Fenster, bewundernswert sind
einzelne Meister der Gotik und Renaissance verfahren, aber
abzirkeln
konnten sie,
bei noch so
bewussten
Baugrund-
sätzen, die-
ses Unbe-
rechenbare
nicht, denn
zum charak-
tervollen Ein-
druck eines
Baues durch
seine Fenster
gehört die
Mitempfin-
dung desMa-
terials, indem
er erbaut ist.
Ganz andere
Fensterfor-
men und Ge-
stalten trägt
in sich der
Ziegelbau,
ganz andere
der massive
Bau in Sand-
stein, Mar-
mor, Kalk-
stein, und
wenn die
herausschau-
ende Men-
schengestalt
im Ziegel-
wohnhaus
eines behag-
lichen Fami-
lienheims mit
Garten und
Park einen
ganz anderen
Eindruck
machen will,
als wenn der
König ans
Fenster oder auf den Balkon seines Schlosses tritt, so spielt auch
die Vereinigung vom Charakter des Materials mit dem Zweck der
Fenster zum Menschenwesen eine ausschlaggebende Geschmacks-
rolle. Z. B. wenn in einem hohen gotischen Kirchturmfenster oder
unter einem Schifffenster der Mensch ganz zum kleinen, demütigen
Wesen einschwindet, das gegenüber dem Unendlichen der Religion
nur als ein vergänglich Kleines wirken soll. Aber eben weil
diese Wirkung unfehlbar erzielt wird, empfinden wir so manches
gotische Schmalfenster in den Türmen oder auch an den Kirchen-
schiffen als etwas Überzeugendes, etwas, das ganz einem mora-
lischen Zwecke dient, das Licht oder farbige Dämmerung schmal
und hoch hereinlässt, um den Menschen in einer besonderen
Stimmung seines Verhältnisses zu dem Unendlichen, seiner
Relation zu Raum und Zeit zu erhalten. Und eben mit Raum-
mitteln, wie der Fensterraum eines ist, wird die Empfindung
Äusseres der Alhambra. Aus : Uhde, die Konstruktionen und Kunstformen^etc.