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410

Das Buch für Alle.

Heft 18.

„Und wenn ich auch wollte, der Gefangene will
nicht!" fiel der Schließer seinem Schwager in's Wort.
„Er hat mir das ganz ausdrücklich erklärt und er hat
ganz Recht. Durch die Flucht würde er seine Schuld
beweisen."
„Und könnt Ihr denn behaupten, daß er schuldlos
ist?" sagte Rabe ärgerlich.
„Ja, das können wir," antwortete der Zimmermann.
„Wäre er es nicht, dann würden Sie sich nicht seiner
annehmen. Sie fürchten ihn, weil er Sie verderben
kann, und ich weiß wahrhaftig nicht, weshalb er es
nicht thut. Jeder ist sich selbst der Nächste! Weshalb
soll er denn Sie und meine Frau schonen? Er sagt ja
selbst, ein offenes Geständniß könne ihm nicht gefährlich
werden."
„Dann hat er eine Lüge gesagt!"
„Hm, das muß er selbst am besten wissen; Wenn er
es sagt, wird es auch Wohl wahr sein. Und er will
sich nur noch einige Tage gedulden, dann wird er dem
Untersuchungsrichter Alles mittheilen."
„Hat er damit gedroht?" fragte Rabe, auf dessen
Stirne die Adern anschwollen. „Zu Drohungen hat er
noch keine Berechtigung, er soll sich gedulden und abwarten,
es ist Alles für ihn geschehen, was geschehen konnte."
„Besser wär's doch, wenn er beseitigt würde," sagte
der Zimmermann, einen vertraulichen Ton anschlagend.
„Wenn er wieder drüben in Amerika wäre, brauchte
man seine Drohungen nicht mehr zu fürchten."
„Wollt Ihr ihn hinüberschaffen?"
„Hm, man könnte es immerhin überlegen."
„Wenn Ihr es fertig bringt —"
„Das wäre meine Sache," fuhr Siebel fort, ohne
den befremdeten Blick seines Schwagers zu beachten,
„zuvor müssen die Bedingungen festgestellt werden. Für
die lumpige Summe, die Sie geboten haben, setzt kein
vernünftiger Mensch seine Existenz anf's Spiel, Sie
müssen ganz anders bieten."
„Wenn Eure Forderung nicht zu unverschämt ist —"
„Fünftausend Thaler für Jeden von uns Beiden!
Drunter können wir's nicht, mein Schwager wird auch
auswandern müssen, und was wir drüben finden, wissen
wir nicht."
Der Blick Rabe's ruhte forschend auf den: wetter-
gebräunten Gesicht, er schien über den Vorschlag nach-
zudenken.
„Und in welcher Weise wolltet Ihr die Flucht er-
möglichen?" fragte er.
„Darüber müßte ich mit meinem Schwager noch be-
rathen," erwiederte Siebel, „einen Plan habe ich noch
nicht entworfen."
„Und ich würde das Geld nicht eher zahlen, bis er
gelungen wäre, tausend Thaler vorab, und den Rest in
New-Pork."
„Was soll das Alles?" fragte der Schließer. „Die
ganze Berathung ist unnütz, mit meinem Willen wird
der Gefangene nicht entfliehen, und wenn ich meine Zu-
stimmung nicht gebe
„Ich rede darüber nachher niit Euch," fiel Siebel
ihm in's Wort. „Ihr kennt meinen Plan noch nicht.
Sie würden also die zehntausend Thaler zahlen?"
„Wenn die Sache gelungen ist, ja."
„lind könnten die anderen Personen nicht auch etwas
beisteuern?"
„Welche anderen?" fragte Rabe unwirsch.
„Die in das Geheimnis? verwickelt sind!"
„Da werdet Ihr selbst Eure Frau fragen müssen —"
„Sie hat nichts außer der Pension, welche die Gene-
ralin ihr zahlt. Und diese Pension wird ja auch nur
dafür gezahlt, daß meine Frau schweigt, daraus geht
hervor, daß die Generalin v. Stnckmann ebenfalls die
Enthüllung jenes Geheimnisses fürchten muß."
„Vermnthungen!" sagte Rabe achselzuckend. „Be-
gnügt Euch mit dem, was Ihr von mir erhalten werdet."
Der Zimmermann stützte wieder das Haupt auf beide
Arme und blickte eine Weile schweigend vor sich hin.
„Vor allen Dingen muß man sorgen, daß der Ge-
fangene nicht ungeduldig wird," nahm er endlich wieder
das Wort, „geben Sie meinem Schwager die Photo-
graphie, er soll sie den? Amerikaner bringen und ihm
sagen, in den nächsten Tagen werde er in Freiheit ge-
setzt werden."
„Er soll sich vor dem Untersuchungsrichter hüten,"
erwiederte Rabe, indem er einen Brief auf den Tisch
legte, „der Assessor wittert überall geheimnißvolle Ver-
brechen. Was ich versprochen habe, das halte ich, sagt
ihm das, er soll mir vertrauen."
„Und die Photographie?" fragte Siebel.
„Sie ist in dem Briefe."
„Haben Sie ihm sonst noch etwas mitzutheilen?"
„Nein, er soll sich gedulden, ich kann auch nicht,
wie ich will. Wie es auch kommen mag, er wird nicht
verirrtheilt werden. Ich bin morgen Abend wieder an
der Kirche, er soll meinen Brief schriftlich beantworten."
„Er hat mir erklärt, daß er keinen Brief mehr
schreiben werde," erwiederte der Schließer.
„Nannte er Gründe dafür?"
„Nein, vielleicht fürchtet er, daß ein Brief in un-
rechte Hände fallen könne."


Willibald Rabe stand bereits an der Thüre, die
Luft in diesen: Raume beengte ihm den Äthern.
„Denkt über Euren Plan nach," sagte er, „ich
werde morgen Abend wieder kommen."
Der Zimmermann erhob sich und lauschte, er hielt
in der Hand den Brief, den Rabe auf den Tisch gelegt
hatte.
„Jetzt wird er Wohl weit genug sein," brach er
nach einer Weile das Schweigen, „es läßt sich nicht
erwarten, daß er zurückkehrt."
Er öffnete den Brief und holte die Photographie
heraus, es war ein Doppelbild der Generalin und deren
Tochter.
„Sonderbar!" sagte er kopfschüttelnd. „Weshalb
mag er dieses Bild verlangt haben?"
„Kennt Ihr die Damen?" fragte der Schließer.
„Die Generalin v. Stuckmann," nickte Siebel, „die
Junge wird Wohl das gnädige Fräulein sein."
„Das ist wirklich merkwürdig!" sagte die Fran.
„Was steht denn in den: Briefe?"
„Nicht viel," erwiederte Siebel, „er soll Geduld
haben und sich vor den: Assessor in Acht nehmen, es
sind fast dieselben Worte, die der Lump soeben uns
gesagt hat."
„Und was nun?" fragte der Schließer. „Ist cs
wirklich Euer ernster Wille, den Gefangenen zu befreien?"
„Bewahre, ich denke nicht daran."
„Zehntausend Thaler!" schaltete die Frau ein. „Das
ist eine große Summe."
„Jawohl, wenn wir sie hätten!" spottete Siebel.
„Wer garantirt uns dafür, daß wir sie bekommen?
In New-Port will er das Geld auszahlen lassen, wenn
Alles gelungen ist. Sind wir erst über dem Wasser,
dann lacht er uns aus."
„Und wenn ich mit Sicherheit wüßte, daß ich das
Geld dort bekäme, würde ich es dennoch nicht thun,"
erwiederte der Schließer, „mich ärgert's schon genug,
daß ich den Briefträger spiele."
„Ruhig, Schwager! Ich wollte nur wissen, wie
viel deni Manne daS Geheimniß Werth ist, jetzt müssen
wir überlegen, wein Wir es Verkaufei: können. Ihr
müßt den Amerikaner beruhigen und Hinhalten, damit
er nicht vor der Zeit Plaudert, inzwischen mache ich
meiner Frau die Hölle heiß, sie muß und soll mit der
Sprache herausrücken. Die Schuldigen der Strafe zu
entziehen, daran denke ich nicht, im Gegentheil, kann
ich noch etwas dazu thun, den feinen Herrn in's Zucht-
haus zu bringen, so geschieht es gewiß, er ist nicht
besser, wie jeder Andere."
„Wer aber soll uns das Geld zahlen?" fragte der
Schließer.
„Vielleicht die Generalin, sie hat's. Ich muß zuvor
klar sehen, einstweilen läßt sich darüber noch nichts
sagen. Gute Nacht!"
Der Zimmermain: ging rasch hinaus, er wollte
jetzt keine Minute mehr versäumen, war es doch auch
ihn: klar geworden, daß unter den obwaltenden Um-
ständen rasch gehandelt werden mußte.
Rabe konnte die Flucht ergreifen, der Gefangene
konnte plötzlich den Entschluß fassen, Alles zu enthüllen,
dann war es mit der projektirten Schafschur vorbei,
die das Fundament zur Gründung eines Holzgeschästs
bilden sollte.
Zu diesem Projekt gesellte sich der tief eingewurzelte
Haß, den Siebel gegen seine Frau hegte.
Er konnte ihr nicht vergessen und vergeben, daß sie
ihm nicht vor der Hochzeit über ihre Pension reinen
Wein eingcschenkt, daß sie ihn Jahre lang belogen hatte.
Und die Entdeckung, daß sie dieses Jahrgehalt wegen
ihrer Mitschuld an einem Verbrechen bezog, trug zur
Verminderung dieses Hasses nicht bei.
Wie oft hatte sie ihn: mit der Besserungsanstalt
und den: Armenhause gedroht!
War sie denn besser, wie er? Sein Gewissen war
mit keiner Schuld belastet, sie hingegen befand sich
auf den: geradesten Wege zum Gefängnis?.
Und wie hatte sie ihn bei seiner Heimkehr empfangen?
Wie einen ans den: Zuchthause entlassenen Sträfling,
den: Jeder aus dein Wege geht!
Sie hatte nicht einmal ein Recht gehabt, ihn: einen
Vorwurf zu machen, denn durch sie war er ein Trunken-
bold geworden, ihretwegen hatte er die Heimath ver-
lassen.
Sein Haß wälzte die ganze Schuld auf die Frau,
und in dieser rachsüchtigen, unversöhnlichen Stimmung
zog er an: Hause Jakob Hochmuth's die Glocke.
Der Antiquar öffnete selbst die Thüre, überrascht
blickte er den späten Gast an.
„Julius Tullius, was wollt Ihr hier?" fragte er.
„Ist die Polizei Euch ans den Fersen?"
„Mir nicht, aber Andern!" spottete Siebel. „Laßt
mich zu meiner Frau, ich muß nut ihr reden."
„Skandal machen?"
„Ich denke nicht daran, ich bin so nüchtern wie
ein Spatz."
Kopfschüttelnd ließ Hochmuth den Zimmermann ein,
der gleich darauf die Treppe hinaufpoltertc.
Frau Siebel war mit ihrer Tochter allein; Werner

Kaltenborn hatte an diesem Abend seine Braut nicht
besucht, und Apollonia fühlte sich dadurch in hohen:
Grade beunruhigt.
Die Mutter wußte auch nicht, was sie davon halten
sollte, es War das erste Mal, das? Werner ohne Ent-
schuldigung ausblieb, und sie hatte eben die Vermnthung
ausgesprochen, ob möglicher Weise die Heimkehr ihres
verschollenen Gatten einen unangenehmen Eindruck auf
den jungen Mann gemacht habe, als die Thüre unge-
stüm geöffnet wurde und der Zimmermann eintrat.
„Laß' mich allein mit Deiner Mutter," wandte
Siebel sich in befehlenden: Tone zu dem erschreckt auf-
blickenden Mädchen, „ich hab' einige Worte mit ihr zu
reden."
„Die ich nicht hören darf?" fragte Apollonia.
„Viel Wissen macht Kopfweh, geh'!"
„Laß' mich nicht allein mit ihm!" rief Frau Siebel
entsetzt. „Er hat Böses vor."
„Sehe ich wirklich so gefährlich aus?" spottete der
Zimmermann. „Ich denke nicht daran! Was ich Dir
zu sagen habe, betrifft Dich allein, es hängt mit Deiner
Pension zusammen."
„Ich wüßte nicht, was Du mir zu sagen hättest,"
erwiederte die alte Frau, ii: deren starrein Blick noch
immer Angst und Entsetzen sich spiegelten.
„Du scheinst ganz zu vergessen, daß mein Schwager
Gefüngnißbcamter ist, und daß ein gewisser Herr mit
einem gewissen Untersuchungsgefangenen Briefe wechselt."
Frau Siebel gab ihrer Tochter einen Wink, sie mußte
ihn wiederholen, dann erst entfernte Apollonia sich
zögernd.
„Was hast Du mir zu sagen?" fragte sie.
„Daß Dein Geheimniß morgen an den Tag kom-
men wird!"
„Unmöglich!" erwiederte die bestürzte Frau mit
bebender Stimme. „Wer will es enthüllen?"
„Der Gefangene."
„Wie kannst Du das wissen?"
„Er hat es meinem Schwager heute Abend erklärt.
Er hat auch von Dir und Rabe gesprochen; morgen
soll der Untersuchungsrichter Alles erfahren."
Das Antlitz der alten Fran war todesbleich gewor-
den, stier blickte sie ihren Mann an, der mit der Wirkung
feiner Worte zufrieden sein konnte.
„lind was zwingt ihn, dieses Geständniß zu machen?"
fragte sie.
„Hin, Gründe sind genug vorhanden. Gesteht er
nicht, so wird er verurtheilt, und das Zuchthaus hat
auch für ihn nichts Verlockendes; überdies ist er in
die Enge getrieben, er soll sich darüber erklären, wes-
halb Rabe ihm damals tausend Thaler geschenkt hat."
„Er hätte das nicht sagen sollen."
„Aber er hat's nun einmal gesagt, zurücknchmen
kann er seine Aussage nicht mehr."
„Deshalb braucht er doch nicht Alles zu gestehen,"
sagte Frau Siebel mit wachsender Erregung, „er macht
sich selbst unglücklich."
„Er macht sich noch unglücklicher, wenn er schweigt,
ii: diesen: Falle wird er wegen eines Mordes, den er
nicht begangen hat, verurtheilt."
„Den er nicht begangen hat? Wer soll ihn denn
begangen haben?"
„Rabe!" erwiederte der Zimmermann, vor dessen
lauerndem Blick Frau Siebel verwirrt die Augen nieder-
schlug. „Es rächt sich Alles im Leben, wenn die Ver-
geltung auch erst nach Jähren kommt!"
Die alte Frau schüttelte den Kopf.
„Sprich diese Anklage nicht aus, daß ein Anderer
sie hört," sagte sie, „Du kannst sie nicht beweisen, sie
ist aus der Luft gegriffen. Und darum handelt es sich
bei diesen: Geheimniß auch gar nicht —"
„Das weiß ich!"
„Unsinn, Du weißt nichts."
„Hm, weshalb hat der Gefangene die Photographie
der Generalin v. Stuckmann verlangt?"
„Die hat er verlangt?" fragte die Frau erstaunt.
„Jawohl und auch erhalten!"
„Das ist wieder Unsinn."
„Ich habe selbst das Bild gesehen. Und was soll
es nun geben, wenn der Untersuchungsrichter Dich
morgen vorladet?"
„So weit sind wir doch noch nicht."
„Bah, die Herren besinnen sich nicht lange! Tie
Vorladung ist rasch geschrieben, und aus dem Verhör
geht's direkt in Untersuchungshaft, da wird nicht lange
gefackelt."
Vergeblich hatte die alte Frau versucht, ihre furcht-
bare Aufregung zu bemeistern, sie konnte sich nicht
mehr bezwingen, die Angst war zu mächtig.
„Rabe muß das Geständniß verhindern," sagte sie,
„Dein Schwager soll nut ihn: reden. Man könnte ja
den Gefangenen entwischen lassen —"
„Dazu ist es schon zu spät," fiel Siebel ihr in'S
Wort, „und Rabe hat erklärt, er kümmere sich nicht
darum, die Geschichte gehe ihn nichts an."
„Was ist das?"
„So sagte er. Die. ganze Schuld ruhe auf Dir,
Di: mögest zusehen, wie Du sie von Dir abwälzen
 
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