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M L2.
Aber cr fuhr nicht im Mindesten. Des Obersten
Worte schienen gerade die entgegengesetzte Wirkung zu
haben. Der Doktor lehnte sich offenbar beruhigt in das
Sopha zurück, und als sich Jener ärgerlich über des
Neffen Ruhe fortwandte, verzog sich das Gesicht desselben
in einer Weise, als ob er sich lauten Lachens kaum er-
wehren könne.
„Will nichts mehr von ihr wissen!" fuhr der Oberst
fort, „nichts mehr mit ihr theilen! Laß sie thun und
reiten und fahren und gehen, meinetwegen zum —"
„Dann kommen Sie auch nicht heute Abend zu der
Kahnfahrt mit Illumination, welche sie arrangirt hat?"
„Nein, mag nicht an ihrem Triumphwagen ziehen,
bin kein Gaul. Laß sich anspannen wer will!" sagte
er, ärgerlich den Schnurrbart streichend, und trat an's
Fenster.
„Das Wetter klärt sich auf," sagte nach einer Pause
der Doktor ruhig, gleichfalls an das Fenster tretend.
„Wir bekommen einen schönen Abend." Nach einer
Pause fuhr er fort: „Ich gehe nun hinunter, um die
Boote zu bestellen. Sie sind also nichtwon der Parthie,
Onkel?"
„Zum Teufel, ja!" fuhr dieser heftig heraus. „Hab'
mich so gefreut auf diese nächtliche Piraterei und nun
soll ich ihretwegen darauf verzichten? — Pulver und
Blei! Junge, da kennst Du mich schlecht! — Gerade
und nur ihr zum Possen fahre ich; soll sehen, daß mir
ganz egal ist, was sie thut und treibt. Geh' nur, ich
fahre — adieu!"
Der Neffe ging.
„Doktor!" rief der Onkel ihm nach, als dieser schon
die Thüre in der Hand hatte, noch immer abgewandt
znm Fenster hinaussehend. „Wenn Du beim Gärtner
vorüber gehst, laß ihn einen Blumenstrauß parat halten
— Hörst Du — aber brillant! Ich brauche einen
brillanten Strauß, sag' ihm — bleibt aber unter uns
— hörst Du — nun geh'!"
Das Wetter klärte sich richtig auf und nach dem
vorauf gefallenen Regen sah Himmel, Erde und Meer
wie zu einem ganz besonderen Feste frisch gewaschen und
gescheuert aus.
Die Sonne war untergegangen, und von der Stelle
aus, wo sie verschwunden war, breitete sich noch ein
letzter goldener Schein über die verlassene Himmelsbahn,
wie das Gedächtniß an das vergangene Leben eines guten
Menschen. Ein sanfter wohliger Wind blähte die Segel
der Boote, welche am Strande eben von einer kleinen,
aber darum nicht minder lauten Minorität von Bade-
gästen bestiegen wurden, um eine kurze Lustfahrt mit
obligater Musik und Feuerwerk zu unternehmen. Unter
den Klängen der Badekapelle, welche in einem Boote
Placirt war, stieß die kleine Flottille endlich in See. In
dem größten Fahrzeuge befanden sich vier Danien, darunter
die leidende stille Frau v. Sabrun und ihre Tochter,
der Oberst und sein Neffe und die drei uns von der
Veranda des Hotels bereits bekannten Herren. Fräulein
Heloise v. Sabrun hatte einen brillanten Blumenstrauß
in der Hand, der ihr ganz ungemeine Freude zu machen
schien, und es war ein reizender Anblick, wenn sie das
blühend schöne Gesicht in diese duftigen Blumen drückte
und ihre Augen wie zwei Sterne darüber hinweg nach
dem Geber suchten, den sie trotz ihrer Mühe noch nicht
zu ermitteln vermocht hatte. Im Fahrwasser dieses
Bootes, des „Admiralschiffes", folgten drei kleinere und
nebenbei lenkte der dem Obersten so unangenehme Eng-
länder mit ungemeiner Gewandtheit seine winzige
Nußschale.
„Bitte Sie um Alles in der Welt!" rief der Oberst
zur Frau v. Sabrun, „was ist und was sucht dieser
Engländer mit ,dem Herzen eines Löwen und dem Kopf
eines Esels' in unserer Nähe? Kennen Sie seinen
Steckbrief, gnädige Fran, wissen Sie was voll ihm?"
„Kann Ihnen damit leider nicht dienen, Herr Oberst,"
erwiederte Frau v. Sabrun lächelnd. „Scheint ihn über-
haupt Niemand zu kennen, selbst in die Badeliste hat
er seinen Namen so unleserlich eingeschrieben, daß Nie-
mand klug aus den zackigen Krähenfüßen wird. Er
kann danach Towsend oder Belfort oder Laurent, oder
weiß Gott wie heißen und soll den ganzen Tag in den
Buchten auf seinem Boot herumfahren und fischen und
Möven schießen — ah, das ist reizend!" unterbrach
sie sich.
Und „oh!" nnd „ach!" tönte es rings von den
Booten her.
Die erste Rakete — die zweite — die dritte prasselte
jetzt in den dunkeln Abendhimmel empor. Die Wellen
blitzten im zauberhaften Wiederschein der rothen sprühen-
den Feucrgarben und eine gewaltige bengalische Flamme
überfluthete zugleich die leise wogende Wasserfläche mit
einem sanften rothen Licht, als ob das Meer eine riesige
Rose sei und in ihrem wogenden Kelche die Boote und
Menschen wiegte, während Rakete auf Rakete aus ihrem
bezaubernde!: Schoße zum Himmel stieg, hoch in der
Luft platzend und Prasselnd in einein Sternenregen wie-
der herabfallend. Plötzlich ertönt mitten aus dem hei-
teren Treiben vom großen Boote her ein gellender Schrei.
„O, rettet! Helft! Er ertrinkt!"
Ein wildes Durcheinanderrufcn und Schreien von

DaS Buch für Alle.

den Booten. Heloise war im Boote einmal äufgestan-
den, dabei war der Stranß ihrer Hand entglitten und
in das Meer gefallen. Doktor Greif hatte sich gebückt,
um ihn der schwellenden Woge zu entreißen — hatte
das Gleichgewicht verloren nnd war in daS Wasser hinab-
gestürzt. Die Damen kreischten laut, Heloise sank ohn-
mächtig zu Boden. Die Herren drängten vor. Aller
Augen waren starr in das dunkle Wasser gerichtet, nm
den: Versunkenen, sobald cr wieder in die Höhe käme,
herauszuhelfen. Eine Sekunde nach der anderen ver-
ging, die Boote hatten sich nmhcr postirt — die Angst
wuchs, die Spannung wurde unerträglich. Der Oberst
hatte die Oberkleider abgeworfen nnd stierte weit über-
gebengt über das Wasser — umsonst!
Da rief eine tiefe Stimme von der entgegengesetzten
Seite des Bootes:
„Lords und Ladies — wollen Ihr mir helfen?"
Alle Gesichter fuhren herum, alle Hände wendeten
sich nach der Stimme. Der lange Engländer stand auf-
recht in seiner Nußschale, mit dem eineu Arm Doktor
Greif haltend, welcher besinnungslos, triefend neben ihm
lehnte. Alle Hände streckten sich nach dem jungen Manne.
Man hob ihn in das Boot und bettete ihn auf Mäntel
und Tücher. Er schlng die Angen auf, sah um sich
und schloß sie wieder. In diesen: Angenblicke erwachte
Hcloise aus ihrer Ohnmacht. Sie sah um sich, besann
sich und sprang wild auf. Sie erblickte die Herren un:
den Doktor bemüht, und die Frauen zur Seite schiebend,
eilte sie auf die Gruppe zu, warf sich neben den Doktor
und umschlang ihn mit beiden Armen.
„Arthur!" rief sie, „meiu Arthur, Du lebst! O,
Du lebst, meiu Arthur!"
Die Herren, der Oberst, standen erstaunt. Die
Damen kamen herbei. Der Doktor schlug die Augen
auf. Sein Blick fiel voll unsäglicher Zärtlichkeit ans
Heloise und indem er sich ein wenig aufrichtete und die
erstaunten Blicke der Vorstehenden bemerkte, versuchte
er zu sprechen, aber er vermochte es nicht und sank
langsam an die Brust Helmsens zurück, die neben ihm
saß und ihren Arn: um ihn geschlungen hatte.
Man begann sich von den: Paare sachte zurückzu-
ziehen und unterhielt sich mit Absicht und sehr lebhaft
über den unglücklichen Fall des Doktors und seine Ret-
tung und alle Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der-
selben, ohne Heloisens und ihres Verhältnisses zu den:
jungen Manne zu gedenken. Aber die Sitnation in
dem engen Boote war darum nicht minder Peinlich.
Namentlich schien der Oberst ganz fassungslos und saß,
den Kopf in beide Hände gestützt, stumm neben dem
Steuer und starrte finster in die See.
Das Boot flog rasch dem Strande.zu. Da erhob
sich Frau v. Sabrun, welche neben ihrer Tochter und
dein Doktor gesessen und kam langsam auf die Herren
nnd Damen zu.
„Meine Herren," sprach sic mit gesenkten: Blick und
leiser aber fester Stimme, „zur vorläufigen Aufklärung
des unglücklichen Vorganges, dessen Zeuge Sie eben ge-
wesen, fühle ich mich verpflichtet, Ihnen die Mittheilung
zu machen, daß meine Tochter Heloise und der Doktor
Greif seit einen: Jahre mit einander verheirathet
sind. Eine nähere Aufklärung hierüber zu geben, ist
hier nicht der Ort — sie wird Ihnen jedenfalls zu
Theil werden."
Hierauf wurde es ganz still. Aber neben den: Boote
erhob sich jetzt die lange Gestalt des Engländers, der
unbeachtet in der Dunkelheit das Boot in seinem kleinen
Fahrzeuge begleitet. Er stand aufrecht, lüstete ein
wenig seinen Hut:
,,Hmnü zmu, Imckz !"
Sprach's, setzte sich in sein Boot nieder und war,
als ob er nur auf diese Erklärung gewartet, in der
Finsterniß der völlig hereingebrvchenen Nacht ver-
schwunden.
Nach wenigen Minuten landeten die Boote an:
Strande. In der Dunkelheit und den: Wirrwarr des
Aussteigens hatte der Oberst seinen Neffen aus dem
Gesichte verloren. Auch die Frau v. Sabrun nnd deren
Tochter suchte cr vergebens. Es blieb ihn: nichts übrig,
als allein nach seinen: Hotel zu gehen, zumal er aus
leicht begreiflichen Gründen ein Zusammensein mit
seinen bekannten Badegästen zu vermeiden wünschte.
4.
Am Morgen darauf saß der Oberst beim Kaffee
allein. Er hatte richtig wieder die kurze Pfeife im
Munde und rauchte die allerbedenklichstcn Nullen, em-
pört über die Falschheit des Neffen, über Heloise, über
Frau v. Sabrun, über Meer, Land, Feuerwerk nnd
die ganze Welt. Hätte am liebsten seine Lenden ge-
gürtet und wäre davon gefahren. Er konnte es trotzdem
weder hindern noch überhören, daß an seine Thüre ge-
klopft Wurde und auf sein ingrimmiges „Herein!" der
Diener der Fran v. Sabrun eintrat und eine beste Em-
pfehlung von seiner gnädigen Herrschaft mit der Bitte
überbrachte, der Herr Oberst möchte die Güte haben,
der gnädigen Herrschaft gütigst einen Besuch zu machen.
„Habe keine Zeit, bin anderweit engagirt, kann nicht
kommen!" fuhr der Oberst heraus.

515

Der Bediente stand aber wie an die Dielen genagelt,
als ob er kein Wort verstanden.
„Nun, was steht Er? — Worauf wartet Er noch?"
fuhr ihn der Oberst an.
„Es ist ganz erbärmlich mit der gnädigen Frau
bestellt; wir meinen fast, es ist zuni Sterben mit ihr,
wegen den: Schreck - nnd sie läßt sehr bitten!"
„Thut mir leid. Was will sie, hat ja die Tochter —"
„Gnädiges Fräulein haben die ganze Nacht am Betic
der gnädigen Fran gewacht nnd sind ganz elendiglicher
Disjunktion," replizirte der Diener.
„So — so! Hm — nun — abcr der Doktor ist
ja bei ihnen, waS soll ich noch, da der Doktor anwesend
ist!" sagte der Oberst, aber mit entschieden sanfterer
Stimme.
„Der Herr Doktor — o, der Herr Doktor sind nicht
im Mindesten anwesend."
„Nun, Potz Wetter! — wo steckt er denn?"
„Der Herr Doktor standen früh auf und gingen
fort und sind noch gar nicht heimgekommen."
Der Oberst sah den Bedienten eine Minute groß an.
„So geht, geht — ich komme gleich, ziehe mich
an — geht und grüßt die Damen recht sehr — ich bin
gleich bei ihnen!"
Der Diener ging und der Oberst machte rasch und
eilfertig Toilette. Nach einer Viertelstunde war cr
unterwegs und nach weiteren fünf Minuten pochte cr
mit den: Klopfer an die Thüre der Frau v. Sabrun.
Er hoffte höchstens einen der Bewohner in: Zimmer
zu finden, war daher nicht wenig überrascht, als er
— sie alle Drei fand.
Frau v. Sarbuu lag allerdings bleich und ange-
griffen in: Lehnstuhl, Heloise sah auch ein wenig blaß
aus, aber der Doktor war nicht im Mindestei: abwesend.
In: Gegentheil, der Oberst empfand seine Anwesenheit
sogleich beim Eintritt in das Zimmer. Denn kaum
hatte er die Thüre geöffnet, als der Doktor ihn: rasch
entgcgentrat, ihn umfaßte und seine rechte Hand ergriff,
während sich Heloise der linken bemächtigte.
„Onkel, Onkel!" rief der Doktor, „verzeih' mir,
verzeih nnd höre mich, ehe Du mich vcrurtheilst! Was
wirst Du von mir denken? —"
„O, ich bitte Sie, Herr Oberst, denken Sie nichts
Böses von uns — Sie werden Alles erfahren," bat
Heloise.
Der Neffe, der das einzige und theuerste Band war,
das den -Onkel seit lange, lange allein an die Welt ge-
fesselt, nnd der gestern kaum dem Tode entronnen; die
blasse junge Fran, in der er bis gestern noch das
liebenswürdigste Mädchen verehrte, nnd dort im Lehn-
stuhl dis stille kranke Mutter, die mit so klagendem,
mattem Blick zu ihn: aufsah — o, über die eben noch
verstimmte Klaviatur seiner alten guten Seele klang
wieder das harmonische Lied von der ewig neuen Güte
des Menschenherzcns.
„Schöne Geschichten das! Aber gemach — gemach,"
rief er, sich aus den lieben Armen befreiend, „nur nicht
gleich Alles denken und erfahren, ihr leichtfertige Krea-
turen, hat keine Noth, bin auch einmal jung gewesen,
hab' auch meine dummen Streiche gemacht! — blonnour
anx ckarnas — laßt mich erst der Dame des Hauses
mein Sprüchleiu sagen und dann — "
Er küßte der Frau v. Sabrun die Hand, welche sie
ihn: schmerzlich lächelnd dargeboten.
„Ich hoffe, gnädige Fran, der Schreck, den Ihnen
der medicinifche Brausekopf gestern beigebracht, wird
nicht schlimme Folgen haben. Es würde mir unendlich
leid thun, wenn die erste Begegnung von Schwieger-
mutter und Schwiegervater, mit welcher Ehre uns diese
jungen Leute so unbedacht bedacht haben, von so nach-
theiligen Folgen für Sie begleitet wären."
„Ich danke Ihnen, Herr Oberst, für Ihre Theil-
nahme," sagte Frau v. Sabrun lächelnd, „aber es geht
vorüber, es geht vorüber — da das Wohlwollen für
unsere Kinder, das ich ii: Ihren Augen lese, beruhigen-
der auf meine Nerven wirkt, als des Doktors Tropfen.
— Abcr nun gestatten Sie mir auch, mich von meiner
Angst zu befreien und Ihnen Aufschluß zu geben über
das, was Ihnen so unerwartet gekommen. — Ich werde
mich kurz fassen — ich kann Wohl nicht anders. Ihr
Neffe war Militärarzt in Köln, als er meine Heloise
kennen lernte. Sie liebtci: sich nnd ich hatte nichts gegen
ihre Verbindung -- wohl aber ein Anderer — ein
Testament —"
„Herr Oberst, ja, ein Testament meines Vaters,"
fiel Heloise ein. „Mein Vater war, zwanzig Jahre
sind's her, durch mißglückte Spekulationen den: Bankerott
nahe, als ein Geschäftsfreund ans Brighton, Mister
Nathan Vincent, in der edelsten Weife sich seiner an-
nahm. Innige Freundschaft verband seitdem die beiden
Männer, trotzdem sie Persönlich nur selten und auf
Geschäftsreisen in Brighton mit einander zusammen
kamen. Wir haben Vincent nie gekannt. Dieser Freund-
schaft sollte die Dauer selbst nach ihrem Tode gesichert
werden und so vereinbarten Beide ein Testament, wo-
nach der Sohn Vinccnt's mein Mann werden sollte, mit
der Bestimmung, daß, falls ich mich Var den: 21. Lebens-
l jahre anderweit vermählte, die Hälfte meines Vermögens
 
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