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~ eine dritte ~ ein ganzer Knäuel von menſchlichen

Körpern, hier eine Reihe ſolcher, wie hingemäht.

Entsetzt hielt ich an. .

Wieder waren es zumeist ältere Männer und Frauen
in derſelben grauen Uniform, mit Abzeichen verſchiedener
Waffengattungen und Rangunterſchiede, alſo Soldaten.

Aber das war ja kein Manöver mehr! ~ Das war
ja ein wirkliches Schlachtfeld, und hier an dieſer Stelle
mußte ein arger Kampf gewütet haben. Einige der
Toten waren gräßlich zerfetzt und bis zur Unkennllich-
keit zerriſſen; es ſchien, als ob furchtbare Briſanz-
geſchoſſe der Artillerie hier ihre Wirkung geübt hätten.
Andere Leichen waren mit vielen, ganz kleinen, aber
meiſt durchgehenden Wunden wie Siebe durchlöchert.

Es war mir nun klar, da hatte eine Schlacht statt-
gefunden oder fand noch statt, aber woher? ~ wie?
. mit wem? = wie war das gekommen?

Da ſah ich vor mir auch ſchon Truppen. Lange
graue Linien, die sich teils wie eine endloſe Raupe dahin-
zogen, teils auf Fahrrädern und Motorwagen dahin-
eilten.

Raſch auf sie zu ~ neues Staunen!

Sehe ich recht? ~ Sind diese grau uniformierten
Reihen, ausſchließlich aus Greiſen und Frauen be-
stehend, die nur von wenigen jungen Männern komman-
diert werden, unsere Soldaten? Was für merkwürdige
Waffen haben sie? Gegen welchen Feind ziehen sie?

Auf meine Fragen erteilte man mir kurze, halb
unverständliche Antworten; ich bemerkte, daß die Leute
über meine Person ebenso erstaunt waren wie ich über
sie. Endlich ward mir nach wiederholter Frage ein
ſichtbarer Punkt im Gelände bezeichnet, wo ich Wisser
ſicher treffen könnte. Dorthin richtete ich mein Fahr-
rad, welches mit wunderbarer Leichtigkeit auch quer-
feldein über Stock und Stein meine Laſt trug.

Nach wenigen Minuten hielt ich auf einem Hügel,
der einen weiten Ausblick in die Umgebung gewährt
hätte, wenn nicht eine Anzahl zierlicher Panzertürme
und Panzerwände diesen teilweiſe behindert hätte. Auf
den erſten Blick ſah ich, daß die Schutzwände trans-

portabel waren; das Material, aus dem ſie beſtanden, |

erkannte ich als Aluminium, doch die geringe Dicke der
Wände hielt ich bei der bekannten Weiche des Alumi-
niums als nicht genügend widerſtandsfähig, ſelbſt gegen
Gewehrgeſchoſſe. Wie erſtaunt war ich daher, als ein
Praſſeln und Knattern, das zeitweise gegen diese Wände
ſchlug, mich belehrte, daß energiſche Geſchoſſe wirkungs-
los gegen sie anprallten. Das zeigte mir auch an, daß
ich mich hier mitten im feindlichen Feuer befand. Gel-
lendes Pfeifen und Schwirren in der Luft rührte von
den bleiernen Todesboten her.

Woher kamen sie? So weit mein Auge reichte,
konnte ich keinen Gegner entdecken.

„Hinter Deckung !“ befahl plötlich rauh eine Stimme
— die Stimme meines Freundes Wiſſer. Ich ſah
auf, und da stand er leibhaftig mit ſeinem ernſten,

lieben Gesicht hinter einem dieser Schirme, umgeben

von einigen anderen Personen.

Aber beim Himmel, wie sah er aus! Dasgsſelbe
Gesicht zwar > ich erkannte es ſofort trog der sonder-
baren grauen Uniform , aber was für merkwürdige

Ayparate trug er an Augen, Ohren und Händen? Wie

Fühlhörner ſtreckten sich Drahtſchlingen von Ohren-
klappen aus Kautſchuk in die Höhe; unter der Stirn
bewegten sich, wie geſtielte Schneckenaugen, eigenartige
Instrumente mit Spiegeln, Prismen und Glaslinſen,
während die Finger auf einer Art Klavier mit Taſten
aller Art und Farben spielten. Aehnlich waren die
Herren seiner Umgebung ausgerüſtet, und jett bemerkte
ich auch zahlloſe Drahtleitungen nach den verſchiedensten
Punkten des Schlachtfeldes, welche bald hier, bald dort
von Radfahrern mit eigens konstruierten Fahrmaſchinen
in unglaublicher Schnelligkeit aufgewickelt und in neue
Richtungen gelenkt wurden.

Nachdem ich mich von meinem ersten Staunen
einigermaßen erholt hatte, stürzte ich auf meinen Freund
s Ms ws cue

heißen“

Wisſer wendete sich um, beſah mich von oben und

unten, dann sprach er in abweiſendem Tone: „Un-

bekannt.“
„Aber, Freund Wisſſer,“ rief ich beleidigt, „du

kennst mich nicht mehr? ~ oder biſt du etwa nicht der
Artilleriehauptmann Georg Wiſſer?“ .

Er horchte auf. „Georg Wisſſer? Artilleriehaupt-
mann? – Das war 1896. Ist geſtorben als Oberſt
1916. War mein Urgroßvater,“ sagte er kurz.
„Was? geſtorben? – und 1916° ~– Geſtern noch
ſprach und aß und trank ich mit ihm."

Noch einmal sah mich Wiſſer ~ wie mir deudchte,
an der Richtigkeit meines Verſtandes zweifelnd — an.
„Wer? Sie?" Er deutete mit dem Finger auf mich.

„Anton Borum, Hauptmann im Generalſtabe, zu-
geteilt der taktiſch - techniſchen Militärverſuchskommif-
ſion, “ stellte ich mich ganz verdutzt vor. .

Wisser ſchüttelte mehrmals den Kopf, dann wendete
er sich auf dem Absatz kurz herum und schloß unsere

D a s B uch für Alle.

Heft 1.







Unterhaltung mit demſelben kurzen „Unbekannt“, mit
welchem Worte er ſie begonnen hatte.

Die anderen Herren seiner Umgebung, mit ihren
Apparaten und Beobachtungen beſchäftigt, hatten unsere
kurze Unterhaltung kaum beachtet. Nur ein kleines
ältliches Männchen, welches in einem nachbarlichen
Schutzturme bei anders gestalteten Inſtrumenten mit
mehreren Kollegen hantiert hatte, näherte ſich mir und
frug, ſich als Evelin Saver vorſtellend, nochmals nach
meinem Namen und Stand.

„Richtig! Stimmt!“ murmelte er, in einem alten, ab-
gegriffenen Notizbuche lesend, „Anton Borum ~ Haupt-
mann ~– Generalstab ~ ja ~ ja + verſchollen ~ Rad-
hoſt – 25. September 1896 = Leiche nicht gefunden.“

„Was? -- Wie? -- Verſcholén? +© I<? -
Wann? ~– Welches Datum ſchreiben wir denn heute?"

„25. September 2000.“

Ich stand da, starr vor Erſtaunen! Langsam und
nach und nach kam mir die Besinnung zurück, und wie
Schuppen fiel es mir von den Augen. Also war ich
über hund ert Jahre in den geheimnisvollen Berg-
höhlen des Radhoſt gewesen! Nun ſtand ich in einer

fremden, neuen Welt, einsam und unbekannt, ohne

Freunde, ohne Vertraute und, wie ich zu entdecken be-
reits mehrmals Gelegenheit gehabt, unwissend wie
ein Kind den jedenfalls bedeutenden Errungenſchaften
einer um hundertjährige Erfahrung fortgeſchrittenen
Menſchheit gegenüber.

Das alte Männchen, das meine Gefühle und Ge-
danken erkennen mochte, erzählte mir: „Seit dem Krieg
1895 zwiſchen China und Japan trat erſteres aus ſeiner
vieltauſendjährigen Passivität heraus. Ungeheurer Fort-
schritt nach europäischem Vorbild. Natürliche Anlagen,
dichte Bevölkerung, unverdorbene Nerven ſchaffen dort
bald Ueberlegenheit in den immer häufiger werdenden
Verwickelungen mit Europa. Expansion des Reiches
macht Druck auf Europa bald fühlbar. Furchtbare
Völkerwanderung von Osten nach Westen. Wie einst
vor mehr als siebenhundert Jahren, in derſelben Gegend
faſt, wird auch jetzi hier die Entſcheidung fallen.“

„Aha!! warf. ich ein,
Liegnitz 1241.“

Saver nickte beiſtimmend und fuhr dann in der
augenscheinlich zur Mode gewordenen abgehackten Rede-
weiſe fort, zu erzählen, daß die verbündeten Völker
Europas zur Abwehr des drohenden Unheils eine Armee
von zwanzig Millionen Menſchen mobilisiert hätten,
welche in langer Linie, von dem Donaubuge bei Waitzen
bis in die märkiſche Ebene konzentriert, zur Haupt-
ſchlacht bereitſtehe. Die hier befindliche Armeegruppe
des Generalfeldherrn Wiſſer, zur Rekognoszierung und
Aufklärung der Karpathenpäsſe vorgeſendet, habe heute
nacht ein unentschiedenes Gefecht mit dem in Ueber-
macht aufgetretenen Gegner bestanden. Eigentlich dauere
der Kampf noch fort, jedoch nur hinhaltend, da beide
Teile die erbetenen Verstärkungen erwarteten, um bei
Einbruch der Dunkelheit mit größerer Heftigkeit den
Kampf von neuem zu beginnen.

„Es wird demnach hauptſächlich bei Nacht gekämpft?"
fragte ich, worauf mir mein neuer Bekannter die Ver-
wendung der Nacht als das einzige Mittel erklärte, die
ttz) Kouhrutuug yt. tuhtutges urn:
herabzudrücken.

Als ich nun weiter fragte, wann die Truppen denn
schliefen, bemerkte Saver, der größte Teil der eigent-
lichen Truppen schlafe während der Bewegung, in-
dem nur im eigentlichen Kampfe und dort, wo ein
ſehr durchſchnittenes Gelände keine andere Fortbewe-
gung zulaſſe, zu Fuß marschiert würde, ſonſt dienten
eigens konstruierte Motorwagen zum Transport der
Soldaten, welche dieſe auch als Unterkunft bei Pauſen
und Unwetter, ja gegebenenfalls auch als fahrbare
Deckungen benutzen könnten.

Ich fand diese Einrichtung sehr praktiſch und er-
fuhr weiter, daß durch besondere Gesellschaften, häufig
durch den Staat ſelbſt, die vorher unbenutzten kolossalen
Kräfte von Gebirgsbächen, Waſſerfällen, Strömen,
Meeresbrandungen, ja ſelbſt von Ebbe und Flut, sowie
die Kraft des Windes durch beſondere Maſchinen-
anlagen in Elektrizität umgewandelt würden. Sie
würde dann nach verschiedenen Hauptſtapelpunkten ge-
leitet, von dort dezentralisiert und an die Interessenten
abgegeben. So befänden ſich auch im Aufmarſchgelände

„Die Tatarenſchlacht von

und auf den Etappenlinien des Heeres ſolche Kraft- |

reſervoirs, welche die Armeefuhrwerke mit den Motoren
verſähen und eigene Kraftkolonnen ausrüſteten.
Ich wax ja einer solchen begegnet. Nachdem ich

| diese Aufklärung erhalten hatte, forſchte ich weiterhin

nach der Kavallerie.

Eigentlich gäbe es keine ſolche mehr, vernahm ich.
Den Nachrichten- und Meldedienſt besorgten, sofern er
nicht auf elektrischem und telephoniſchem Wege erfolge,
die im ausgedehnten Maße verwendeten Brieftauben,
Briefschwalben und Kriegshunde; auch Kriegsfalken

würden benutzt. Den übrigen Dienst, der früher der

Reiterei obgelegen habe, einſchließlich der bereits zur
Mythe gewordenen Attacke, besorgten Radfahrer.



„O edler Reitergeiſt, " rief ich aus, „wo bliebſt du?
Mutiges Kriegsroß, was iſt aus dir gewmordent“. .

Beim Gegner befände ſich noch zahlreiche Kavallerie
auf Pferden, erzählte der unermüdliche Berichterstatter
weiter; – in Europa ſei dieſes koſtſpielige Tier aber
nach und nach auf den Ausſterbeetat geſeßt worden,
da sein Fleiſch zu wenig Anklang gefunden habe; nur
in entlegenen Dörfern finde es noch Verwendung, in
größeren Städten könne man es allenfalls noch in
Menagerien und Tiergärten ſehen.

Auch hinsichtlich des Menſchenmateriales ſeien andere
Ansichten zum Durchbruch gelangt: es beſtehe eine ent-
schieden allgemeine Wehrpflicht, vom 14. Lebensjahre
an auf Lebensdauer, und zwar ohne Unterſchied des
Geschlechtes. Es sei jedoch bei der äußerſten Vereinfachung
des Gebrauches der zumeiſt maſchinellen Kriegsmittel
und der großen allgemeinen Volksbildung die eigent-
liche Präſenzdienstzeit eine sehr kurze; in den Kampf
zögen in erſter Linie die zur körperlichen Arbeit minder
geeigneten älteren Männer und Frauen, da, wie geſagt,
die Handhabung der Waffen eine sehr einfache und
nicht krafterfordernde sei, Marſch- und Lagerſtrapazen
aber faſt vollkommen verſchwunden wären. Die jungen,
kräftigen Leute hingegen, der zur Fortführung der ge-
werblichen und agrikulturellen Arbeit beſtimmte Nach-
wuchs, bliebe als letzte Reſerve für den äußerſten Not-
fall aufbewahrt.

„Heutzutage, “ schloß der Mann in ſeinem Tele-
grammſtil, „gelernter Soldat ~ Luxus ~ nur Klappe
der allgemeinen Maſchine.“

„Aber die Verpflegung dieser ungeheuren Maſſen
auf so engem Raume?"

„Konserven,“ war die kurze Antwort, und dann
hörte ich mit Erstaunen, daß es gelungen Fei, die zur
Ernährung eines Menſchen erforderlichen Elemente in
möglichst reiner, beinahe chemiſcher Form geschickt und in
einen so kleinen Raum zu komprimieren, daß die Tages-
ration kaum die Größe einer guten Haſelnuß ausmache. ~

Meinem Einwurf, daß der Magen des Menſchen
doch einer gewiſſen Füllung bedürfe, begegnete der Be-
zhchet vhm tus ttt:
Soldat auch aus mitgeführten Chemikalien an Ort
und Stelle raſch wachſende Substanzen erzeuge, die zur
Nahrung dienten.

Nun sah ich meinen neuen Bekannten aber doch an,
als ob ich glaubte, er wolle mich zum Narren halten.
Seine Antwort darauf war eine Einladung, ſein Mahl
zu teilen. Er zog einige Stanniolkapſeln von Finger-
hutgröße hervor und öffnete eine davon.

i pbcus Bierhefe?“ fragte ich nach einer kurzen
rüfung.

P. cicher Körper. Wächst in einer Traubenzucker-
lösung durch Ansetzung neuer Zellen sehr raſch auf
Kosten des im Lösungsmittel befindlichen Waſſerſtoffes
und der Kohlensäure der Lust. Bildet nahrhafte
Kohlehydrate." Auf einen Wink von ihm erschien
sein Diener, welcher mir merkwürdig bekannt vorkam.
Richtig, gerade so sah er aus, wie unser braver Re-
gimentsarzt. Der Arme, er wird wohl ſchon an hun-
dert Jahre im Grabe liegen.

Der Diener brachte eine mit Waſſer gefüllte Metall-
schale. Saver schüttelte zuerſt den Inhalt einer zweiten
Kapſel ~ „Traubenzucker besonderer Art“ — in das
Wasser, und nachdem ſich dieſer raſch gelöſt, die mir un-
bekannte Substanz. Sofort entstand dort ein Prickeln und
Zittern, einzelne Teilchen stießen sich ab, vergrößerten
ſich, kryſtalliſierten wieder an, und in wenigen Minu-
ten war die kleine Menge zu einem kopfgroßen Ballen
angeschwollen.

Der Diener mischte und knetete nun den Jnhalt
einer dritten Stanniolkapſel, die eigentliche Nährkonſerve,
hinein und backte zuletzt die Masse auf einem raſch an-
gezündeten Feuer.

Während dieser Zeit erzeugte er aus einer vierten
Kapsel und einer Schale Wasſer einen herrlich ſchmecken.
den Wein. Es ſchien irgend ein Extrakt der Kolanuß
darin zu sein, denn mir ward unbeſchreiblich wohl und
angenehm davon; und als ich von der trefflichen Kon-
servenſpeiſe mit bestem Appetit –~ man bedenke, daß
ich über hundert Jahre gefaſtet ~ genossen hatte, fühlte
ich mich gestärkt und wie neu geboren. Sogar der
Druck, den ich bisher fortwährend im Kopfe geſpürt,
ließ nach, und ich wurde ſehr luſtig.

Herrn Saver nannte ich ſcherzweiſe Johann, denn
er kam mir wie mein getreuer Diener vor hundert
Jahren vor. Seinem Diener dagegen gab ich beharr-
lich den Kosenamen „Doktorle", den einstmals unser
Regimentsarzt geführt hatte. Ich bemerkte nun auch,
daß der Generalfeldherr Wisſſer mit seinem Stab ſich
uns angeschloſſen hatte und ganz so, wie in alten,

längſt vergangenen Zeiten sein Urgroßvater, zu mir .

ſprach. Er redete von Geſundwerden, Dummheiten-
machen und dergleichen, das ich nicht verſtand; da-
zwiſchen empfahl das „Doktorle" Ruhe und meinte,
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mit seinen kalten Händen fortwährend meine Stirn.
 
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