68
Das Buch für Alle.
Heft 3.
Präſidium bemühen zu wollen. Die Recherchen in dcr
Mordſache müſſen mit aller nur möglichen Eile be-
trieben werden. “
Krauſe hatte die verſchloſſene Thür seines Comptoirs
geöffnet, und während er nun eine Streichholzſchachtel
hervorzog, um das Gas anzuzünden, sagte er mit dem
zweifelnden Ausdruck
größten Erstaunens:
„Sollte da nicht viel-
leicht eine Verwechs-
lung vorliegen? Was
ſind das für Recher-
chen, zu denen Sie mich
brauchen? Und was
für eine Mordsache iſt
es, von der Sie reden?“
„Sie wissen also
noch gar nichts ? Ach,
dann thut es mir
leid, Herr Krause, daß
ich der Ueberbringer
einer ſehr ſchmerzlichen
Neuigkeit sein muß.
Ihre Verwandte, die
verwitwete Frau Wil-
helmine Abt, ist heute
vormittag ermordet in
ihrer Wohnung auf-
gefunden worden."
Krauſe hielt das
brennende . Schwefel-
hölzchen in der Hand;
aber er vergaß, den
Arm zu der Gaslampe
zu erheben, und starrte
den Beamten an wie
jemand, der im Zwei-
fel iſt, ob er träume
oder wache. „Ermor-
det –~ meine Schwä-
gerin ? Nein, das iſt
FU. .
leider außer Zweifel.
Aber geben Sie acht,
JU;
Männer waren
im Dunkeln, und
die gemaltige
h | Aufregung, in
die eine ſo unerwartete Schreckensnach-
richt ihn notwenig versehen mußte, machte
es wohl begreiflich, daß der Getreide-
händler faſt zwei Minuten lang vergeblich
nach der eben aus der Hand gelegten
Schachtel ſuchte. :
nsch kann es nicht faſſen ~ es will
mir nicht in den Ropf,“ klang seine
Stimme aus der Finsternis. „Wer um
des Himmels willen hat der armen alten Frau das
angethan? Sie hatte doch keinen Feind! Sprechen
Sie Herr: von wem wurde dies ſchauderhafte Verbrechen
_ Es handelt ſich aller Wahrsſcheinlichkeit nach um
einen Raubmord. Von den Thätern aber fehlt bis
t Bures le pziser
jetzt noch jede Spur. Und weil der Polizeirat
hoſft, von Ihnen vielleicht wertvolle Aus-
kann für die Unterſu-
<ung von Wert ſein.“
„Ja, ja, Sie haben
recht. – wir wollen
gehen. Erlauben Sie
mir nur, oben in mei-
nem Wohnzimmer raſch
ein Glas Wein zu trin-
ſehr ermüdet von den
Anstrengungen derReise,
und nun iſt mir der
Schrecken so in die Glie-
der gefahren, daß ich
mich kaum noch aufrecht
erhalte. Sie sollen nicht
lange auf mich zu warten
brauchen = ich bin ſo-
gleich wieder da. “
. jett völlig gefaßt
„Jedenfalls in den Morgenstunden des heu-
tigen Tages. Alle Anzeichen lassen darauf
ſchließen. ~ Darf ich Ihnen vielleicht mit mei-
nem Feuerzeug aushelfen, Herr Krauſe?“
„Ich danke Jhnen ~ da ist ſchon die Schachtel.
Sie müssen entschuldigen, wenn ich etwas ver-
jtert tit: aber eine ſolche Neuigkeit ~ eine solche
euigkeit !“ ;
Die Gasflamme leuchtete auf und warf ihren
hellen Schein auf den Kopf des Getreidehändlers.
Sein ſscharfgeſchnittenes Gesicht war ſehr bleich,
in den undurchdringlichen Zügen aber prägte ſich
nichts von jener hochgradigen Erregung aus, die
ſich in ſeinen Worten verriet.
„Gestern noch gesund und rüſtig, und heute
tot, von der Hand eines Buben hingemordet !“
murmelte er, und mit einem Kopfschütteln fügte
er hinzu: „Es muß ja Wahrheit sein, da Sie es
sagen; aber es will mir noch nicht gelingen, mich
in die fürchterliche Vorstellung zu finden. Und
vielleicht iſt ſie obendrein unter gräßlichen Qualen
geſtorben – ich bitte Sie, mein Herr, laſſen
Sie mich alles er-
fahren. Jett bin
ich darauf gefaßt,
auch das Grauen-
hafteſte zu ver-
nehmen."
„Ich will Ihnen
gern erzählen, was
ich weiß; aber Sie
geſtatten wohl, daß
ich es unterwegs
thue. Jede Minute,
die wir gewinnen,
Ich war ohnedies
Er nahm ſeine
Reisetasche auf und
ging hinaus, um
in das obere Stock-
werk des Hauſes
emporzuſteigen. Es
waren in der That
kaum fünf Minu-
ten verſtrichen, als
er wieder erſchien,
bleich wie zuvor,
doch anſcheinend
und ruhig.
„UBch hin be- .
reit," ſagte er.
„Laſſen Sie uns
denn aufbrechen !“
In dem Polizeipräsidium auf der Schuhbrücke
hatte der Einbruch der Nacht heute für eine ganze
Anzahl von Beamten keine Beendigung ihres mühe-
vollen und aufregenden Tagewerks gebracht. Der
Polizeirat Lindequisſt besprach sich eben mit zweien
ſeiner tüchtigſten Kommissare, als ihm der Ge-
treidehändler Krauſe gemeldet wurde.
„Ah, endlich!“ sagte er. „Wir haben mit
Schmerzen auf den Mann gewartet. Laſſen Sie
ihn sogleich hereinkommen !“
Die Vorſtellung war raſch erledigt, und der
Rat, ein Herr von den liebenswürdigsten und ver-
bindlichſten Umgangsformen, lud den Ankömmling
ein, auf einem Stuhl neben seinem Schreibtisch
Plat zu nehmen. P _
„Es thut mir leid, daß wir Sie noch so spät
behelligen mußten, Herr Krauſe, zumal Sie ja,
wie ich höre, eben erſt von der Reise zurückgekehrt
ſind. Aber Sie sind, wie es scheint, der einzige, der zu
der ermordeten Frau Abt in näheren Beziehungen ge-
Heft 3.
Das Buch f ür Alke.
69
„Ich erfuhr einiges von .dem Beamten, in desſen Be-
gleitung ich hierherkam, aber er schien ſselbſt nur wenig zu
tin. und ich war noch ſo aufgeregt, daß ich doch bitten
möchte –~“
„Nun wohl, so will ich Sie in aller Kürze über den
Stand der Angelegenheit unterrichten. Daß die Frau Abt
~ sie war Jhre Schwägerin, nicht wahr?“
Z „Jawohl, Herr Rat, die Schwester meiner versſtorbenen
xau. '
„AAo daß Ihre Schwägerin von fremder Hand, und zwar
mit einem Strick, erdroſſelt worden iſt, unterliegt keinem
Zweifel. Die Leichenöffnung wird zwar erſt morgen erfolgen,
aber ihr Ergebnis kann nur eine Bestätigung der durch den
Augenschein hinlänglich festgeſtellten Thatsache sein. Von
größter Wichtigkeit iſt nun zunächst die Ermittelung der Stunde,
in der das Verbrechen verübt wurde, und wir glauben, auch
darüber bereits einigermaßen im klaren zu sein. Eine
Reihe gewichtiger Umstände berechtigt uns zu dem Schluß,
tf h. Mord heute zwiſchen ſieben und acht Uhr morgens
eſchah. “ :
U „Es sind alſo um diese Zeit verdächtige Perſonen in der
Nähe des Thatortes geſehen worden, Herr Rat?"
„Das eigentlich
nicht! Wir sind zu
unserer Vermutung
vielmehr auf andere
Weise gelangt. Das
Mädchen, das Ihrer
Schwägerin täglich
Milch und Back-
ware brachte, iſt
auch heute dagewe-
ſen, und zwar um
Es hängte nach sei-
ner Gewohnheit den
Beutel . mit den
Weißbrötchen an
setzte die Milchkanne
auf die Schwelle.
Als es die Treppe
wieder hinabging,
hörte es deutlich,
wie die Thür geöff-
net und die Ware
hineingenommen
wurde. Milch und
Brot ſind denn auch
in der Wohnung
gefunden worden,
und die Frau muß
alſo um diese Zeit
noch gelebt haben.
Auch das Morgen-
blatt, das von dem
Zeitungsjungen
nach seiner Erklä-
in den Briefkasten
gesteckt worden war,
lag im Wohnzim-
mer der Ermordeten
auf dem Tiſche, und
zwar in einem Zu-
ſtande, der deutlich
erkennen ließ, daß
ſie noch darin ge-
lesen hatte. Da-
gegen hat ſie eine
Poſtkarte und eine
Drucksache, die der
Briefträger um acht
Uhr in denselben Kasten geworfen hat, nicht mehr an ſich
genommen. Während dieser letzten Stunde war sie eben
aller Wahrſcheinlichkeit nach ermordet worden.“
Krauſe, der aufmerkſam zugehört hatte, nickte zuſtimmend.
Tuuibet g nach diesen Anzeichen wohl kein Zweifel
mehr bestehen.“ Z
„Die h .: mit deren Ansichten wir uns ja leider nicht
immer in Uebereinstimmung befinden, sind freilich auch dies-
mal anderer Meinung. Sie folgern aus dem Unistande, daß
bei der Auffindung der Toten die Leichenstarre bereits ein-
getreten war, der Mord müſsſe ſchon erheblich früher, viel-
leicht schon gestern abend, begangen worden sein. Dem
widerſprechen aber nicht nur die erwähnten Feſtſtellungen,
sondern auch die Thatſache, daß das Bett der Frau Abt
alle Spuren der Benutzung zeigte, und daß verschiedene
Personen aus der Nachbarſchaft mit aller Bestimmtheit be-
kunden, geſtern abend zu den gewöhnlichen Stunden Licht
in der Wohnung gesehen zu haben. Aber das sind Dinge,
die zunächſt mehr für uns als für Sie Intereſſe haben, Herr
Krauſe. Jetzt kommt es vor allem darauf an, ob Sie uns
sechs Uhr morgens.
die Thürklinke und
rung um ſieben Uhr
kommen. Aber ich finde nichts ~ nichts! Meine
Schwägerin verkehrte ja mit niemandem, und
ich glaube nicht, daß ſie einen Feind hatte."
„Daß der Mord von einem ihrer Jeinde be-
gangen worden sei, iſt auch nicht wahrſcheinlich.
Nicht um sich an ihr zu rächen, sondern um sie
zu beſtehlen, hat man die alte Frau erwürgt.
Schon die Unordnung, in der die Zimmer ger
funden wurden, läßt mit genügender Sicherheit
darauf schließen. Alle Behälter, in denen ſich
Wertſachen vermuten ließen, waren geöffnet und
durchwühlt. Auf dem Fußboden aber lag eine
kleine eiſerne Kassette, die nach den vorhandenen
Spuren gewaltsam aufgesprengt worden iſt. Sie
war vollständig leer. Ist Ihnen vielleicht be-
kannt, Herr Krauſe, was die Verſtorbene in
dieſer Kassette aufzubewahren pflegte?"
. êII]IRNI ! …I0ù II
UW UW
;)
] .
m.
„War es ein braunlackierter Kaſten mit einem
Meſh.gtth gf ven §edstse
„Diese eat fee ich allerdings, von ihrem
| Inhalt aber weiß ich wenig. Meine Schwägerin hat
ſie, ſoweit ich
mich erinnere,
nur ein ein-
ziges Mal in
meiner Ge-
genwart ge-
öſfnet, und
zwar in aller-
jüngster Zeit
r Vor etwa
drei oder vier
Wochen. Ich
vermute, daß
ſie auch ihre
Schmuck-
sachen darin
verwahrte. “
„Haben Sie
jemals etwas
von diesen
Schmucksachen
geſehen ?“
„Nichts als
die beiden
Stücke, die sie
mir damals
zeigte. Das
eine war ein
großes golde-
nes Medaill-
lon, wie die
Damen es
früher umden
Hals zu tra-
gen pflegten.
Ich glaube
auch, daß es
mit Perlen
oder derglei-
chen besetzt
war; aber ich
erinnere mich
daran nicht
mehr genau,
denn mich in-
Herr Krauſe, Sie wer- künfte zu erhalten, läßt er auf das dringendste | standen hat, und wir tappen leider noch so ganz im . durch die Aeußerung irgend eines Verdachts behilflich sein tereſſierte nur
den sich verbrennen.“ um Ihr sofortiges Erſcheinen bitten. Ü Dunkeln, daß uns Jhre Auskünfte wahrscheinlich von E können. Ü z ' ; das darin be-
Die Warnung war wohl angebracht, denn in dieſem „Ich bin selbſtverſtändlich ganz zur Verfügung. ~ Ö großem Werte ſein werden. – Sie sind über das Ver- _ Der Getreidehändler fuhr sich mit der Hand über die findlicheBild,
Moment mußte Krauſe das Hölzchen fortwerfen, das | Wenn Sie es gestatten, begleite ich Ste sofort. ~ | brechen und über die näheren Umstände, soweit sie eben Stirn. „Seit dem Augenblick, wo ich das Schreckliche erfuhr, ein Porträt
ihm bereits die Fingerſpiten verſengte. Die beiden | Wann wurde die Schandthat verübt?“ | bis jetzt ermittelt werden konnten, bereits unterrichtet?“ zerbreche ich mir den Kopf, um auf eine Vermutung zu meiner ver-
Bilder von der Hächſiſch-Thüringiſchen Induſtrie- und Gewerbe "lung in Leipzig. Originalzeichnungen von A. Lewin.
Das Buch für Alle.
Heft 3.
Präſidium bemühen zu wollen. Die Recherchen in dcr
Mordſache müſſen mit aller nur möglichen Eile be-
trieben werden. “
Krauſe hatte die verſchloſſene Thür seines Comptoirs
geöffnet, und während er nun eine Streichholzſchachtel
hervorzog, um das Gas anzuzünden, sagte er mit dem
zweifelnden Ausdruck
größten Erstaunens:
„Sollte da nicht viel-
leicht eine Verwechs-
lung vorliegen? Was
ſind das für Recher-
chen, zu denen Sie mich
brauchen? Und was
für eine Mordsache iſt
es, von der Sie reden?“
„Sie wissen also
noch gar nichts ? Ach,
dann thut es mir
leid, Herr Krause, daß
ich der Ueberbringer
einer ſehr ſchmerzlichen
Neuigkeit sein muß.
Ihre Verwandte, die
verwitwete Frau Wil-
helmine Abt, ist heute
vormittag ermordet in
ihrer Wohnung auf-
gefunden worden."
Krauſe hielt das
brennende . Schwefel-
hölzchen in der Hand;
aber er vergaß, den
Arm zu der Gaslampe
zu erheben, und starrte
den Beamten an wie
jemand, der im Zwei-
fel iſt, ob er träume
oder wache. „Ermor-
det –~ meine Schwä-
gerin ? Nein, das iſt
FU. .
leider außer Zweifel.
Aber geben Sie acht,
JU;
Männer waren
im Dunkeln, und
die gemaltige
h | Aufregung, in
die eine ſo unerwartete Schreckensnach-
richt ihn notwenig versehen mußte, machte
es wohl begreiflich, daß der Getreide-
händler faſt zwei Minuten lang vergeblich
nach der eben aus der Hand gelegten
Schachtel ſuchte. :
nsch kann es nicht faſſen ~ es will
mir nicht in den Ropf,“ klang seine
Stimme aus der Finsternis. „Wer um
des Himmels willen hat der armen alten Frau das
angethan? Sie hatte doch keinen Feind! Sprechen
Sie Herr: von wem wurde dies ſchauderhafte Verbrechen
_ Es handelt ſich aller Wahrsſcheinlichkeit nach um
einen Raubmord. Von den Thätern aber fehlt bis
t Bures le pziser
jetzt noch jede Spur. Und weil der Polizeirat
hoſft, von Ihnen vielleicht wertvolle Aus-
kann für die Unterſu-
<ung von Wert ſein.“
„Ja, ja, Sie haben
recht. – wir wollen
gehen. Erlauben Sie
mir nur, oben in mei-
nem Wohnzimmer raſch
ein Glas Wein zu trin-
ſehr ermüdet von den
Anstrengungen derReise,
und nun iſt mir der
Schrecken so in die Glie-
der gefahren, daß ich
mich kaum noch aufrecht
erhalte. Sie sollen nicht
lange auf mich zu warten
brauchen = ich bin ſo-
gleich wieder da. “
. jett völlig gefaßt
„Jedenfalls in den Morgenstunden des heu-
tigen Tages. Alle Anzeichen lassen darauf
ſchließen. ~ Darf ich Ihnen vielleicht mit mei-
nem Feuerzeug aushelfen, Herr Krauſe?“
„Ich danke Jhnen ~ da ist ſchon die Schachtel.
Sie müssen entschuldigen, wenn ich etwas ver-
jtert tit: aber eine ſolche Neuigkeit ~ eine solche
euigkeit !“ ;
Die Gasflamme leuchtete auf und warf ihren
hellen Schein auf den Kopf des Getreidehändlers.
Sein ſscharfgeſchnittenes Gesicht war ſehr bleich,
in den undurchdringlichen Zügen aber prägte ſich
nichts von jener hochgradigen Erregung aus, die
ſich in ſeinen Worten verriet.
„Gestern noch gesund und rüſtig, und heute
tot, von der Hand eines Buben hingemordet !“
murmelte er, und mit einem Kopfschütteln fügte
er hinzu: „Es muß ja Wahrheit sein, da Sie es
sagen; aber es will mir noch nicht gelingen, mich
in die fürchterliche Vorstellung zu finden. Und
vielleicht iſt ſie obendrein unter gräßlichen Qualen
geſtorben – ich bitte Sie, mein Herr, laſſen
Sie mich alles er-
fahren. Jett bin
ich darauf gefaßt,
auch das Grauen-
hafteſte zu ver-
nehmen."
„Ich will Ihnen
gern erzählen, was
ich weiß; aber Sie
geſtatten wohl, daß
ich es unterwegs
thue. Jede Minute,
die wir gewinnen,
Ich war ohnedies
Er nahm ſeine
Reisetasche auf und
ging hinaus, um
in das obere Stock-
werk des Hauſes
emporzuſteigen. Es
waren in der That
kaum fünf Minu-
ten verſtrichen, als
er wieder erſchien,
bleich wie zuvor,
doch anſcheinend
und ruhig.
„UBch hin be- .
reit," ſagte er.
„Laſſen Sie uns
denn aufbrechen !“
In dem Polizeipräsidium auf der Schuhbrücke
hatte der Einbruch der Nacht heute für eine ganze
Anzahl von Beamten keine Beendigung ihres mühe-
vollen und aufregenden Tagewerks gebracht. Der
Polizeirat Lindequisſt besprach sich eben mit zweien
ſeiner tüchtigſten Kommissare, als ihm der Ge-
treidehändler Krauſe gemeldet wurde.
„Ah, endlich!“ sagte er. „Wir haben mit
Schmerzen auf den Mann gewartet. Laſſen Sie
ihn sogleich hereinkommen !“
Die Vorſtellung war raſch erledigt, und der
Rat, ein Herr von den liebenswürdigsten und ver-
bindlichſten Umgangsformen, lud den Ankömmling
ein, auf einem Stuhl neben seinem Schreibtisch
Plat zu nehmen. P _
„Es thut mir leid, daß wir Sie noch so spät
behelligen mußten, Herr Krauſe, zumal Sie ja,
wie ich höre, eben erſt von der Reise zurückgekehrt
ſind. Aber Sie sind, wie es scheint, der einzige, der zu
der ermordeten Frau Abt in näheren Beziehungen ge-
Heft 3.
Das Buch f ür Alke.
69
„Ich erfuhr einiges von .dem Beamten, in desſen Be-
gleitung ich hierherkam, aber er schien ſselbſt nur wenig zu
tin. und ich war noch ſo aufgeregt, daß ich doch bitten
möchte –~“
„Nun wohl, so will ich Sie in aller Kürze über den
Stand der Angelegenheit unterrichten. Daß die Frau Abt
~ sie war Jhre Schwägerin, nicht wahr?“
Z „Jawohl, Herr Rat, die Schwester meiner versſtorbenen
xau. '
„AAo daß Ihre Schwägerin von fremder Hand, und zwar
mit einem Strick, erdroſſelt worden iſt, unterliegt keinem
Zweifel. Die Leichenöffnung wird zwar erſt morgen erfolgen,
aber ihr Ergebnis kann nur eine Bestätigung der durch den
Augenschein hinlänglich festgeſtellten Thatsache sein. Von
größter Wichtigkeit iſt nun zunächst die Ermittelung der Stunde,
in der das Verbrechen verübt wurde, und wir glauben, auch
darüber bereits einigermaßen im klaren zu sein. Eine
Reihe gewichtiger Umstände berechtigt uns zu dem Schluß,
tf h. Mord heute zwiſchen ſieben und acht Uhr morgens
eſchah. “ :
U „Es sind alſo um diese Zeit verdächtige Perſonen in der
Nähe des Thatortes geſehen worden, Herr Rat?"
„Das eigentlich
nicht! Wir sind zu
unserer Vermutung
vielmehr auf andere
Weise gelangt. Das
Mädchen, das Ihrer
Schwägerin täglich
Milch und Back-
ware brachte, iſt
auch heute dagewe-
ſen, und zwar um
Es hängte nach sei-
ner Gewohnheit den
Beutel . mit den
Weißbrötchen an
setzte die Milchkanne
auf die Schwelle.
Als es die Treppe
wieder hinabging,
hörte es deutlich,
wie die Thür geöff-
net und die Ware
hineingenommen
wurde. Milch und
Brot ſind denn auch
in der Wohnung
gefunden worden,
und die Frau muß
alſo um diese Zeit
noch gelebt haben.
Auch das Morgen-
blatt, das von dem
Zeitungsjungen
nach seiner Erklä-
in den Briefkasten
gesteckt worden war,
lag im Wohnzim-
mer der Ermordeten
auf dem Tiſche, und
zwar in einem Zu-
ſtande, der deutlich
erkennen ließ, daß
ſie noch darin ge-
lesen hatte. Da-
gegen hat ſie eine
Poſtkarte und eine
Drucksache, die der
Briefträger um acht
Uhr in denselben Kasten geworfen hat, nicht mehr an ſich
genommen. Während dieser letzten Stunde war sie eben
aller Wahrſcheinlichkeit nach ermordet worden.“
Krauſe, der aufmerkſam zugehört hatte, nickte zuſtimmend.
Tuuibet g nach diesen Anzeichen wohl kein Zweifel
mehr bestehen.“ Z
„Die h .: mit deren Ansichten wir uns ja leider nicht
immer in Uebereinstimmung befinden, sind freilich auch dies-
mal anderer Meinung. Sie folgern aus dem Unistande, daß
bei der Auffindung der Toten die Leichenstarre bereits ein-
getreten war, der Mord müſsſe ſchon erheblich früher, viel-
leicht schon gestern abend, begangen worden sein. Dem
widerſprechen aber nicht nur die erwähnten Feſtſtellungen,
sondern auch die Thatſache, daß das Bett der Frau Abt
alle Spuren der Benutzung zeigte, und daß verschiedene
Personen aus der Nachbarſchaft mit aller Bestimmtheit be-
kunden, geſtern abend zu den gewöhnlichen Stunden Licht
in der Wohnung gesehen zu haben. Aber das sind Dinge,
die zunächſt mehr für uns als für Sie Intereſſe haben, Herr
Krauſe. Jetzt kommt es vor allem darauf an, ob Sie uns
sechs Uhr morgens.
die Thürklinke und
rung um ſieben Uhr
kommen. Aber ich finde nichts ~ nichts! Meine
Schwägerin verkehrte ja mit niemandem, und
ich glaube nicht, daß ſie einen Feind hatte."
„Daß der Mord von einem ihrer Jeinde be-
gangen worden sei, iſt auch nicht wahrſcheinlich.
Nicht um sich an ihr zu rächen, sondern um sie
zu beſtehlen, hat man die alte Frau erwürgt.
Schon die Unordnung, in der die Zimmer ger
funden wurden, läßt mit genügender Sicherheit
darauf schließen. Alle Behälter, in denen ſich
Wertſachen vermuten ließen, waren geöffnet und
durchwühlt. Auf dem Fußboden aber lag eine
kleine eiſerne Kassette, die nach den vorhandenen
Spuren gewaltsam aufgesprengt worden iſt. Sie
war vollständig leer. Ist Ihnen vielleicht be-
kannt, Herr Krauſe, was die Verſtorbene in
dieſer Kassette aufzubewahren pflegte?"
. êII]IRNI ! …I0ù II
UW UW
;)
] .
m.
„War es ein braunlackierter Kaſten mit einem
Meſh.gtth gf ven §edstse
„Diese eat fee ich allerdings, von ihrem
| Inhalt aber weiß ich wenig. Meine Schwägerin hat
ſie, ſoweit ich
mich erinnere,
nur ein ein-
ziges Mal in
meiner Ge-
genwart ge-
öſfnet, und
zwar in aller-
jüngster Zeit
r Vor etwa
drei oder vier
Wochen. Ich
vermute, daß
ſie auch ihre
Schmuck-
sachen darin
verwahrte. “
„Haben Sie
jemals etwas
von diesen
Schmucksachen
geſehen ?“
„Nichts als
die beiden
Stücke, die sie
mir damals
zeigte. Das
eine war ein
großes golde-
nes Medaill-
lon, wie die
Damen es
früher umden
Hals zu tra-
gen pflegten.
Ich glaube
auch, daß es
mit Perlen
oder derglei-
chen besetzt
war; aber ich
erinnere mich
daran nicht
mehr genau,
denn mich in-
Herr Krauſe, Sie wer- künfte zu erhalten, läßt er auf das dringendste | standen hat, und wir tappen leider noch so ganz im . durch die Aeußerung irgend eines Verdachts behilflich sein tereſſierte nur
den sich verbrennen.“ um Ihr sofortiges Erſcheinen bitten. Ü Dunkeln, daß uns Jhre Auskünfte wahrscheinlich von E können. Ü z ' ; das darin be-
Die Warnung war wohl angebracht, denn in dieſem „Ich bin selbſtverſtändlich ganz zur Verfügung. ~ Ö großem Werte ſein werden. – Sie sind über das Ver- _ Der Getreidehändler fuhr sich mit der Hand über die findlicheBild,
Moment mußte Krauſe das Hölzchen fortwerfen, das | Wenn Sie es gestatten, begleite ich Ste sofort. ~ | brechen und über die näheren Umstände, soweit sie eben Stirn. „Seit dem Augenblick, wo ich das Schreckliche erfuhr, ein Porträt
ihm bereits die Fingerſpiten verſengte. Die beiden | Wann wurde die Schandthat verübt?“ | bis jetzt ermittelt werden konnten, bereits unterrichtet?“ zerbreche ich mir den Kopf, um auf eine Vermutung zu meiner ver-
Bilder von der Hächſiſch-Thüringiſchen Induſtrie- und Gewerbe "lung in Leipzig. Originalzeichnungen von A. Lewin.