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134

mit dem flüſſigen Chloroform uu dem Ulbtaach wie-

der geſtellt hatte. Galvän nahm das Fläſchchen in die
Hand und beſah es genau.
Man mußte dem Kranken das Bein abnehmen.
„Jch halte das nicht aus, Don Alvarez,“ meinte
Graf Galvän leiſe, „ich kann's nicht anſehen, und da
Sie mich jetzt nicht brauchen können, ſo komme ich lieber
später zurück, um mit Ihnen zu ſprechen. “
Der Apotheker nickte stumm. Cr war gerade mit
dem Arzt an dem Kranken beschäftigt, und als er ſpäter
das Chloroformfläſchchen ſuchte, war es fort. Er glaubte
zunächſt, er habe es in der Zerſtreuung wieder weg-
tt. e cfer ur ſuuutus qu buittcue uu U
ache un . ß
der Arzt an ſich genommen. Er mußte das Blut und
die Beinreſte des Kranken fortſchaffen und dachte nicht
mehr an das Fläſchchen. ]
Eine Stunde ſspäter ſaß Graf Galvän auf Schloß
Valverde und studierte mit großem Cifer das Eiſen-
bahnkursbuch. Er ſchien ſich darüber zu wundern, daß
der Eilzug von Saragoſſa nach Madrid iroy aller

Schnelligkeit neun Stunden brauchte, fand aber wieder

zu seiner Befriedigung, daß man an einem Tage be-
quem hin und her fahren und auch noch einige Stunden
in Madrid sich aufhalten könne. Daß das gerade Nacht-
stunden waren, ſchien ihn nicht zu stören, im Gegen-
teil dachte er wohl gar daran, seiner Braut ein nächt-
liches Ständchen zu bringen, denn er kleidete ſich ſorg-
fältig um, legte sich seine Guitarre zurecht, die er in
einem Futteral bequem bei ſich führen konnte, und

ah nach ſeiner Uhr. Der Zug ging um vier Uhr.
. Etwa zwanzig Minuten brauchte er, um bis zum Bahn-

hof zu kommen. Er hatte noch viel Zeit. Es war
kaum Mittag. Aber seine Sehnſucht war ſo groß, daß
er zuerſt die Uhr im Salon, dann auch die große
Hofuhr allmählich eine Stunde vorrückte; auf Schloß
Valverde war man nicht ſo genau an die Zeit gebunden,
und so fiel das weder dem alten Pedro, noch der
Barbara auf.
Als seine Zeit kam, brach Galvän auf.
„Pedro!“ rief er laut nach seinem Faktotum.
Dieſer erſchien.
„Welche Zeit iſt es?“ fragte er ihn.
„Es muß bald vier Uhr ſein.“
„Sieh nach, welche Stunde die Uhr zeigt."
Pedro ging sofort nach dem Hof und ſah nach der

_ großen Uhr.

„Es iſt bereits halb fünf Uhr vorüber, Herr Graf. “

„Siehſt du wohl? Du haſt dich geirrt. Halb fünf

Uhr vorüber. Es muß ſogar bald fünf Uhr ſein.
An meiner Taſchenuhr fehlen nur noch zwölf Minuten
an fünf Uhr, obgleich sie gewiß nicht viel vorgeht.
Jedenfalls längst vier Uhr vorbei.“

Nachdem das in ziemlich umſtändlicher und ein-
dringlicher Weiſe erörtert worden war, fuhr Graf
Galvän fort: „Du brauchſt heute abend nicht auf mich
zu warten. Ich habe etwas vor. Ich bleibe sogar viel-
leicht in der Stadt über Nacht, wenn ich Glück habe,
Verſstanden?"

Dabei blinzelte er so eigentümlich, daß Pedro auf
hett Gedanken kam, es handle sich um ein Liebes-
îagabenteuer.

und komme erſt morgen wieder.

„Wie Euer Gnaden befehlen, “ antwortete er und

ließ ſich als gehorſamer Diener seines Herrn nichts von
seiner Mutmaßung merken.

Dann verließ Galvän das Schloß ziemlich eilig.
Als er am Bahnhof in Saragoſſa ankam, fehlten noch
zwei Minuten an vier Uhr, aber es herrſchte bereits
eine solche Dämmerung – es war Ende November
und noch dazu an einem trüben, regneriſchen Tag ,
daß ſchon überall Lichter angezündet wurden. Er ſchlug
den Kragen seines Ueberziehers in die Höhe und löſte
eine Fahrkarte nach Calatayud, einer kleinen Station,
wo sich die Züge kreuzen, alſo immer einiger Aufenthalt
war. In Calatayud, wo er ſchon in tiefer Dunkelheit
ankam, obgleich es wohl kaum sieben Uhr war, löſte
er eine neue Fahrkarte nach Madrid, wo er wenige
Minuten nach ein Uhr nachts ankam.

Das Wetter war noch immer trübe und feucht.
Hin und wieder fielen einige Regentropfen, aber es
war dabei außerordentlich warm, sogar ſchwül. In-
deſſen achtete Galvän nicht darauf. Sei es, daß ihn
die Ueberraſchung beſchäftigte, die er seiner Braut auf

dem Paſeo de la Caſtelana zugedacht, die ihn ja erſt

nächſte Woche erwartete, oder sei es, daß er eine Beute
der Liebesſehnſucht oder einer anderen Leidenſchaft war
~ kurz, er hatte nur Obacht darauf, daß er so raſch
und unauffällig wie möglich nach dem Paseo de la
Caſtelana kam.

. CEr hatte auf der ganzen Reiſe kein Wort mit
irgend jemand gesprochen, den Hut tief ins Gesicht ge-
drückt und den Mantelkragen hochgezogen, so daß es
ſchien, als ſchliefe er. Zweimal hatte er den Wagen
gewechſelt, und auch bei seiner Ankunft in Madrid
waren seine Vorsſichtsmaßregeln so sonderbar, daß er
nicht einmal wagte, am Bahnhofe ſelbſt eine Drosſchke
nach dem Paſeo de la Caſtelana zu nehmen, sondern



Da s Buch für Alle.

das erſt in der Nähe des königlichen Schlosses that.
Er fuhr auch nicht direkt bis an das Haus des Herrn
Munoz, sondern ließ etwa zwei- bis dreihundert Schritt
hazet halten, bezahlte den Kutſcher und ſchickte ihn
ort.
_ OGalvän blieb einen Augenblick stehen und atmete
tief auf. So weit war er glücklich, ohne daß jemand
ihn erkannt oder auch nur eine Ahnung davon hatte,
daß er hier weilte. Es war eigentlich kein Grund ein-
zuſehen, weshalb sich Galvin mit so ängſtlicher Sorg-
falt in geheimnisvolles Dunkel hüllte, wenn er doch
weiter nichts wollte, als ſeiner Braut ein Ständchen
bringen. Er hatte in der Nähe der Poſt, in der
Carrera de San Jerónimo, ſein Absteigequartier in
Madrid, wo er regelmäßig, wenn er in der Haupt-
ſtadt anwesend war, was ziemlich häufig vorkam, ver-
kehrie. Heute dachte er nicht daran, ſich dort zu zeigen.
Langſam und vorsichtig näherte er ſich dem Hauſe
des Herrn Muñoz. Keine Seele war in der vornehmen
Straße zu ſehen. Nur hie und da lehnte ein Nacht-
wächter an einem geſchloſſenen Zeitungskiosk oder an
einem Baum und ſchlief. Das Thor war geſchloſsen.
Mit einigen gelenkigen Sätzen schwang ſich Galvän
über das elegante Eiſengitter und verſchwand im Park
der Villa Munoz.



Zwoölftes Kapitel.

Am nächsten Morgen ~ es war der 27. November
und ein trüber, regneriſcher Tag ~ ſtand Lieutenant
Mandrito zum erſtenmal wieder von ſeinem Schmerzens-
lager auf, allerdings nur, um von seinem Bett etwa
vier Schritte weit nach dem erſten beſten Schaukelstuhl
zu gehen. Wundfieber, Blutverluſt und nicht zum
wenigsten wohl auch innerer Kummer über deine hilfloſe
Lage und ſeine hoffnungslose Liebe zu Carmen hatten
genügt, um den ſonſt kräftigen jungen Mann in kurzer
Zeit sſo ſchwach und hinfällig zu machen, daß für ihn
dieſe vier erſten Schritte eine wahre Strapaze bildeten.
Und doch war seine Mutter, die in dieſer ganzen Zeit
nicht von seiner Seite gekommen war, über dieſen
é. ſ4tberen Schritt zur Besserung vor Freude wie
außer ſich.

„Es wird sich ſchon wieder machen, Francisco, nur
Geduld, “ tröſtete ſie ihn. „Aber du mußt dich vor
allem auch nicht mit trüben Gedanken plagen. Du
biſt noch nicht sſiebenundzwanzig Jahre alt. In dem
Alter giebt man noch nichts auf. Nichts, ſage ich dir.
Ich kenne das. Aber Geduld mußt du haben, bis du
wieder geſund biſt. “

„War der Doktor noch nicht da, Mutter?“

Ewu sa uu r

er 1 , §

„Es iſt halb zehn Uhr, Francisco, und draußen ſehr
ſchlechtes Wetter. Ü

„Aber Doktor Morän hat mir gestern verſprochen,
er wolle um neun Uhr bei mir sein, um zu sehen, wie

mir das Aufſtehen bekommt.“

„Je nun, irgend eine Abhaltung, ein ſchwerer Fall
wird ihn verhindern. Er wird ſchon noch kommen."
Der Kranke seufzte wieder auf. i
„Du mußt auf andere Gedanken zu kommen ſuchen,
Francisco, du mußt nicht immer an dich denken. Ich
würde dir gern etwas erzählen, was dich ablenkt, aber

in Madrid passiert jet rein gar nichts mehr. Ich

möchte nur wissen, was die Leute alle Tage in die
Zeitungen setzen. Es passiert gar nichts. Madrid iſt
die langweiligſte Stadt in ganz Spanien und allen
Kolonien. Was ſoll man dir da erzählen? Ich bin
doch kein Dichter oder Zeitungsſchreiber, der ſolche
Sachen aus den Fingern saugt. ... Ah, wer kommt
denn da? Nun, unſer heiliger Jago von Compoſtella
sei gelobt, es iſt die Generalin Vereño. Sie wird
ſchon etwas Neues wissen, was dich zerſtreut. Sie weiß
immer etwas. Nur herein, Frau Generalin. Es ſsieht
zwar nicht ſehr einladend aus, indessen ein Kranken-
zimmer ist ein Krankenzimmer, und wir brauchen uns
doch gegenseitig nicht zu genieren. Ü

Die Generalin ſtreckte den Kopf durch die Thür.
„Auf ?" fragte ſie neugierig. „Also wirklich zum erſten-
mal heute auf? Gelobt sei Gott und ſeine Heiligen!
Herr Lieutenant, nur Mut, nun wird ſich's ſchon
machen. Nun haben wir gewonnen. Die Zeit kommt,
wo wir Arm in Arm wieder über die Puerta del
Sol gehen. He? Nur Courage.“

Sie war während dieser Worte näher gekommen
und reichte dem Rekonvaleszenten die Hand. Dieser
lächelte etwas. Er wußte wohl, daß die alte Dame
es güt mit ihm meinte und ihn liebte wie einen Sohn.

„Frau Generalin, an Mut fehlt es nicht, Sie wiſſen
es," erwiderte er wehmütig, „aber an Arm. Jch
zlzste. daß nicht ich Sie, ſondern Sie mich führen
müßten."

„Wird ſich alles machen, Herr Lieutenant, alles.“

„Was giebt's Neues in der Stadt, Frau Generalin?“

fragte Frau Mandrito.
Die Generalin sette ſich ohne Umstände auf einen
Stuhl — sie war durch ihre häufigen Beſuche bei Frau



Heft 6.

Mandrito wie zu Hauſe –~ und begann in dem be:

kannten Erzählerton, mit dem alte Damen ihr Herz
leichtern. Sie, ja! Gestern nachmittag ſind sie wieder
zurückgekommen aus Schloß Valverde –~

„Ah, Ihr Bruder, Frau Generalin, und Carmen?“

E S B U

„Nun, denken Sie nur, sie haben ſeine Schwester
mitgebracht, die Condeſa Pepita. “
ut! Sie iſt wohl ſehr ſchön, diese Condesa Pe-
f! „Ach, gehen Sie weg! Ein kleines, nervöſes Ding,
das auch noch hinkt, aber ich glaube ein ganz gutes
Mädchen. Sie hat hübſche, zutrauliche Augen, nicht
den vertrackten Spit)bubenblick ihres Bruders. Das
iſt aber auch allee. Im übrigen –

„Und was sagt Carmen?“

„Sie iſt ein dummes Mädchen, kein Wort davon.
Sie muß erſt durch Schaden klug werden. Sie wird
ſchon noch einsehen lernen, daß ihre alte Tante es gut

mit ihr meint. Aber ob es dann nicht zu ſpät ſienn.

wird, das ist die Frage. “
ü ger Kranke ließ ſeufzend den Kopf auf die Bruſt
inken.

„Aber nur den Mut nicht verloren. Ich habe ſchon
immer geſagt: ich dulde es nicht! Und dabei bleibt's.
Das wollen wir doch einmal ſehen. Was? So ein –f

„Und was sagt Ihr Bruder von dem Beſuch?“
unterbrach ſie Frau Mandrito.

„Was ſoll er ſagen, meine Teuerſte? Sie wiſſen,
wie die Sache steht. Er kann nichts sagen und hat
auch nichts geſagt. Natürlich ist zwiſchen ihm und
dem Grafen Galvän wieder die Rede davon gewesen,
und mein Bruder, denken Sie sich den Schlauberger,
hat dem Grafen geſagt, er solle zu mir gehen. Meine
Entſchrihung solle gelten.“

n Hat er?!

„Natürlich, das hat er gesagt. Was ich ſage, gilt.
Nur Mut alſo! Wenn der Graf zu mir kommt und

meine Meinung wissen will ~ ha! er ſoll sie wiſſen.

Ich werde ihm heimleuchten, mein Wort darauf. So
iſt noch niemandem heimgeleuchtet worden ſeit der Sünd-
flut, bei der Jungfrau del Pilar! Aber ich fürchte nur,
er kommt nicht. Er wird's nicht wagen. Es thut
mir faſt leid, denn ich würde es ihm gern ſagen, ſo
recht friſch von der Leber weg. Aber ich fürchte, er
wird's nicht wagen, zu mir zu kommen.“

„Hm, und wenn er nun nicht kommt? Was ge-
schieht dann? –~ Wie meinen Sie?“

Die Generalin glaubte, Frau Mandrito oder Fran-
cisco hätten etwas geſagt, aber sie hatte sich getäuſcht.
Der Klang der Stimme, die sie gehört, kam von außen.
abt faq t e “five h. Marprits i
nachſehen. Vielleicht iſt es der Arzt.“

In demselben Augenblick klopfte es aber auch ſchon
an der Thür und auf das ,„Herein“ trat der Arzt,
Doktor Morän, ein. Er war ein ſchon älterer Herr,
der den Ruf eines sehr tüchtigen und äußerſt gewiſſsen-
haften Arztes genoß, im Verkehr mit seinen Patienten
aber gewöhnlich von einer wohlthuenden Heiterkeit und
Friſche war. Nur heute ſah er ungewöhnlich ernſt und
aufgeregt aus. '

iges dem Lieutenant Mandrito fiel das auf. „Was
haben Sie, Dotkttor?“ fragte er rale.

„Was soll ich haben?“ entgegnete dieſer ausweichend.
„Sie sind. nicht wie ſonſt. Ist Ihnen etwas zu-

gestoßen? Sie kommen auch ſo ſpät.“

„Ich bitte um Entschuldigung. Ich wurde ~ ~
hm ~ nun, weshalb ſoll ich es nicht ſagen? Es war

allerdings ein besonderer Fall. Ich wurde nach dem

Paseo de la Caſstelana gerufen.“ ;

Die Generalin, die halb abgewendet saß, fuhr raſch
herum. „Und zu wem?“ fragte sie. „Ich habe gehört,
daß ein Diener der Prinzeſſin Mercedes mit dem Pferd
geſtürzt iſt und sich beſchädigt hat. Waren Sie bei
diesem, Herr Doktor?" ;

„Nein, Frau Generalin. Ü

„Bei wem denn sonſt? Es wohnen eine Menge
fit: ni Paſeo de la Caſtelana. Ich kenne sie aber
aſt alle.“

„Ich war in der Villa Musoz.“

Die Generalin stand raſch auf. „Was?" fragte
ſie erſtaunt. „Jn meines Bruders Haus ?“

Feſt und ernst ſah ihr der Arzt ins Auge. Das
mochte sie beunruhigen. Ein leiſes Zittern überlief
die alte Dame.

Zu dienen, Frau Generalin. Ü

"Ich wußte nicht, daß Sie Hausarzt bei Herrn
Muñsoz ſind, Doktor Morän, “ warf Lieutenant Man-
drito dazwiſchen. : ;

„Ich bin nicht Hausarzt dort, Herr Lieutenant, son-
dern von meinem Kollegen eines besonderen Vorfalles

wegen zugezogen worden.“

" Doch nichts Schlimmes, Herr Doktor?“ fragte die
Generalin wieder raſch. ,„JIſt jemand krank?“
„Krank? Nein!“ erwiderte dieser ſchwer und siockend.
 
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