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230

Er wollte an ihr vorbei nach der Thür, sie aber
r hct. ttt ſelhen Ecrctung zu res Hale
bleibe bei mir! Geh nicht aus, heute jetzt nicht !“

Er machte ſich übellauniſch, aber dennoch sanft von
ihr los. „Wie du nur immer biſt, Pepita!“ erwiderte
er tadelnd. „Weshalb ſoll ich denn nicht ausgehen? Ich
muß doch meine Geſchäfte erledigen.“

„Bleibe hier! Nur heute folge mir! Ich habe eine
unsägliche Angst ~“

„Die haſt du immer,“ bemerkte er achſelzuckend.

„Nein, nein,“ rief ſie, ihn immer wieder von neuem
umklammernd, „niemals iſt mir zu Mut gewesen wie
heute. Bleibe heute hier, bei mir, Galvän!“

„Du bist kindiſch, Pepita. Wenn ich dir ſage, daß
durchaus keine Veranlaſſung zur Aengſtlichkeit vorliegt,
weder heute noch ſonst, wirſt du dich dann nicht beruhigen?
Du weißt doch, Pepita, daß ich dich liebe wie ſonſt
niemand auf der Welt. Würde ich also nicht der erſte
ſein, der bei der geringsten Veranlaſſung zu irgend
welcher Besorgnis dich warnte, dich in Sicherheit brächte?
Aber du iannſt völlig ruhig sein! Alle meine Angelegen-
heiten ſtehen vorzüglich. Meine Verheiratung mit Carmen
wird uns eine in jeder Hinsicht vorzügliche Stellung
geben. Wir werden in der Villa Muñoz am Paſeo
de la Caſtelana wohnen, und zu den Frühjahrswahlen
werde ich als Abgeordneter in das Ayuntamiento von
Madrid einziehen. Ich habe ſchon die nötigen Schritte
gethan. Die Sache ist ſo gut wie sicher. Dann werde
ich einen Grund und Boden haben, von dem aus ich
mir mit leichter Mühe einen Cortessitz erobere, und wenn
es dir besonderes Vergnügen macht, werde ich mit der
geit auch Miniſter werden. Für einen Valverde iſt
tig Yhrt im Staate zu hoch. Was also willſt du
mehr ?" :

„Gieb mir nur dieſes einzige Mal nach und bleibe
heute hier. Mir ist so fürchterlich bang."

„Du biſt unverbesserlich,“ sagte er ärgerlich. „Gerade
heute habe ich notwendige Geſchäfte. Ich muß fort.
Alſo lebe wohl und sei vernünftig, Pepita!“

Er küßte ſie auf die Stirn. Seufzend fügte sie sich.

Eben wollte er die Wohnung verlassen, als ein Dienſt-
mann bei ihm eintran. .

„Was wollen Sie?“ herrſchte ihn Galvän, unwillig
über die neue Verzögerung, an.

_ „Habe ich die Ehre, den Herrn Grafen Galvän de
Valverde zu ſprechen?“ fragte der Mann.

„Der bin ich. Haben Sie etwas auszurichten?
Machen Sie ſchnell. Ich habe es eilig.“

„Ich habe den Auftrag, Ihnen diesen Brief perſön-
lich zu übergeben.“ i

„Geben Sie her. Sind Sie bezahlt?“

„Za!

„Hier. Trinken Sie auf meine Geſundheit.“

Galvän warf ihm ein Peſetaſtück zu. Der Mann
bedankte sich ziemlich umſtändlich für das reiche Geſchenk
und entfernte ſich, während Galvän den Brief aufriß
Ut gt. Es war das Schreiben des Lieutenants

andrito.

Einen Augenblick starrte Galvän finster vor ſich hin.
Dieſe Angelegenheit schien ihm nicht recht gelegen zu
kommen. Gewartet hatte er ja ſchon lange auf etwas
Aehnliches, nur gerade jet war es ihm äußerſt un-
bequem. Er hatte augenblicklich zu viel auf einmal zu
besorgen: seine Hochzeit, seine Wahl und dann noch eine
ſeiner bekannten Expeditionen an der Grenze, die ihn
leicht ein bis zwei Wochen von Madrid fernhalten
konnte. Er erwartete jeden Tag Nachricht. darüber von
ſeinem Helfershelfer in Bayonne. Soeben war er auf
dem Wege nach der Poſt, um zu sehen, ob etwa ſchon
eine Nachricht eingelaufen sei. Selbſtversſtändlich ließ
er ſolche Korreſpondenzen nicht unter seinem Namen
laufen, sondern unter dem Namen seines Dieners. Es
konnte niemandem auffallen, wenn er gelegentlich auf
der Post Korreſpondenzen für Pedro Sangeraldo in
Empfang nahm.

Nun kam auch noch die Geschichte mit dem Lieutenant
Mandrito. Wie ſchon gesagt, war sie ihm nicht unerwartet.
Er hatte an der Haltung und an dem Benehmen
Carmens ihm gegenüber ſchon bemerkt, daß da etwas
im Werke sei, und im Grunde genommen war es ihm
lieb, endlich Gelegenheit zu haben, seinen Gegner auf

immer unschädlich zu machen. Er hatte schon daran ge-

dacht, ihm ein Duell ohne Zeugen vorzuſchlagen, damit
~ wie Galvän vorzuſchützen beabſichtigte ~ der Zweck
des Kampfes, nämlich der Tod eines der beiden Gegner,
um so sicherer erreicht würde. Galvän war entſchlossen,
ſich durch einen Schuß, der eine halbe Sekunde zu früh
ſiel, für immer von diesem lästigen Nebenbuhler zu be-
freien. Er setzte sich freilich dadurch einem Prozeß aus,
aber was konnte denn dabei für ihn herauskommen?
Er wurde wieder einmal der Held des Tages, das Ge-
ſprächsthema von ganz Madrid, und das brachte ihm
mehr Nuten, als ihm eine kürzere oder längere Feſtungs-
haft ſchaden konnte. Er fühlte ſich jetzt ſo unternehmend,
ſo ſicher ſeines Erfolges, daß er sofort beschloß, dem

Lieutenant noch heute seinen Vorſchlag brieflich zu über- |

mitteln. Mit Carmen gedachte er dann bei der geringsten





Da s Buch für Alle.

Verzögerung kurzen Prozeß zu machen. War ihm das
bei der Generalin gelungen, die seine ausgesprochene

Feindin war, so mußte das um so ſicherer auch dem | -

jungen unerfahrenen Mädchen gegenüber gelingen, be-
ſonders wenn ihre stille Hoffnung, der Lieutenant

Mandrrito, tot war.

„Was steht in dem Brief?" fragte Pepita ihren
Bruder ängstlich. :

„Nichts. Der Schneider will die neuen Anzüge für
mich anprobieren,“ meinte er lässig.

Er ſchob den Brief in die Taſche und fuhr nach
einer kleinen Pauſe fort: „Jch überlegte eben, daß ich
vielleicht vor dem Cssen nicht mehr hierher zurückkommen
kann. Aengstige dich deshalb nicht. Wir treffen uns
dann sicher in der Villa Muñoz. Ich bin bestimmt um
leber 119 dort und rechne darauf, daß du dann auch
ort biſt./

„Die Einladung ist für ſieben Uhr, ich werde also
um diese Zeit dort sein.“

„Nun, also auf Wiederſehen dort!“ sagte er leichthin.

Damit ging er aus der Thür. :

. „YAuf Viederſehen dort! .. - -- dort!!‘ murmelte
Pepita in ihrer sonderbaren, ahnungsvollen Art. Was
fiel ihr bei dem kleinen, kurzen Wort auf, daß ſie es
ſo ſeherhaft, so schwer bedeutend wiederholte, als ob
es sich um ein Wiederſehen nicht hier in dieser Welt,
ſondern dort, in einer anderen, gehandelt hätte? Die
Villa Muñoz stand ja nicht außer der Welt, sondern
am Paseo de la Caſtelana, wohin sie und ihr Bruder
auf heute abend zum Essen eingeladen waren.

Galvän, der ſonst faſt nie zu Fuß ging, wollte ge-
rade heute für die kurze Strecke, die er bis zum Poſt-
gebäude zurückzulegen hatte, nicht erst einen Wagen
nehmen. Wenn er auf der Poſt seine Geschäfte besorgt
hatte, konnte er das noch immer thun. So ging er
denn die wenigen hundert Schritte zu Fuß. Die Straße
war voll von Leuten, aber Galvän ſah kaum auf. Nach-
denklich,, die Augen vor sich zu Boden gesenkt, mit
dem Spazierſtock nach kleinen Steinchen ſchlagend, ging
er langſam dahin. Er ſchien nicht ganz im reinen mit
ſich zu sein. Ob er nun in das Gelingen seiner Pläne
doch nicht so volles Vertrauen hatte, oder ob die Bitten
ſeiner Schwester heute mehr Eindruck als sonst auf ihn
gemacht, das ließ sich nicht entscheiden. Er wußte es
ſelbſt nicht. Genug, er war verſtimmt.

Was er noch nie empfunden hatte, eine gewisse
Scheu, eine ahnungsvolle Furcht überſchlich ihn. Er
hatte zu viel auf dem Kerbholz, als daß er nicht hätte
an die Möglichkeit denken sollen, daß ihn plötzlich ein-
mal eine Gefahr überraſchte, packte und niederwarf. An
seinen Pſeudo-Ayala dachte er dabei freilich ganz und
gar nicht. Er wußte Joſé wieder sicher geborgen in

| der Cuadrilla des Torero Guerrita. Er konnte jeder-

zeit auf ihn zurückgreifen –~ natürlich nur in der Not.
Dieser Menſch war für. ihn nur ein Sicherheitsventil,
deſſen er ſich in der Gefahr bedienen wollte, und dieses
Sicherheitsventil konnte er jetzt mit jedem Druck der

Hand erreichen. Alſo das beunruhigte ihn nicht. Er |

wußte überhaupt nicht, was ihn beunruhigte. Es war
eine Mißſstimmung unerklärlicher Art, die ihn beherrschte,
eine Gewissensunruhe, die er ebenſo raſch, wie sie ge-
kommen war, auch wieder abzuſchütteln gedachte.

Er trat in das Poſstgebäude ein. Auch hier liefen viele
Menſchen hin und her. Das Poſtgebäude in Madrid ſteht
kaum fünfzig Schritt von der Puerta del Sol, gleich
hinter dem Telegraphenamt, also in einer der belebtesten
Gegenden der Stadt. Galvän ſah flüchtig auf. Es war
ihm das instinktive Gefühl gekommen, als ob ihn jemand
scharf angeſchaut hätte. Er sah aber lauter unbekannte
Leute um sich. Rechts in der Halle befand sich ein
Schreibraum für das Publikum. In diesen trat Galvän
ein und ſchrieb auf einen der dort herumliegenden Brief-
bogen die Antwort an Lieutenant Mandrito, klebte eine
Marke darauf und ſteckte ihn mit aller Seelenruhe in
den Briefkaſten. Dann ging er an einen Schalter und
fragte den Beamten: „Wollen Sie die Güte haben,

Senor, nachzuſehen, ob Briefe für Don Pedro Sange- |

raldo eingegangen sind ?“

„Don Pedro Sangeraldo?“ fragte der Beamte der
Sicherheit halber noch einmal.

„Ja wohl, Señor,“ antwortete Galvän, und der
Beamte ging nach einer Fächerſtellage, um unter den
eingegangenen Briefen nachzuſehen. Nach kaum zwei
Minuten kam er zurück und übergab dem Grafen Galvän
ein Schreiben mit einer franzöſiſchen Freimarke und dem
Poſtſtempel Bayonne. Ahnungslos und ruhig beſah
Galvän das Schreiben. Es war die erwartete Antwort

ſeines Agenten jenseit der Grenze. Eben wollte er es

in die Taſche ſchieben, um es bei gelegener Zeit zu
lesen, als sich plötzlich ein Mensch in gewöhnlicher
baskiſcher Kleidung und mit einer runden Wollmüyte

auf dem Kopfe wie ein wildes Tier. auf ihn warf..

„Haltet ihn, haltet den Mörder! Steh, Verruchter.
Ha, kennst du mich?“ ſchrie der Kerl in der höchſten

Aufregung und mit dem Affekt eines Menschen, der um

Leben und Tod kämpft.
Galvän erkannte ihn sofort. Es war der Gefangene
von Jrun, den er selbſt mit Lebensgefahr aus dem Ge-



Heft 10.

[ fängnis befreit hatte, sein Pseudo-Ayala, den er gegen-

wärtig in Vitoria bei der Cuadrilla Guerritas glaubte.
Galvän erkannte sofort die ungeheure Gefahr, in
der er ſchwebte. Der Mann hielt ihn an der Gurgel
gepackt, indem er vor Wut keuchte. Noch viel mehr als
für seinen Angreifer handelte es ſich für Galväin um
Leben und Tod. Blitzschnell zog er seine Navaja, *)
ohne die er nie ausging.

Das war der erſte Fehler, den er in der Beſtürzung,
in der Ueberrumpelung beging. Bei kaltem Blute hätte
er sich ſagen müſſen, daß er unter so vielen Leuten auf
dieſe Weiſe nichts ausrichten konnte.

Kaum hatte er aber die Waffe erhoben, als Joſé,
gewandt und sehnig, wie er war, ihn mit eiſerner Kraft
an der Handwurzel packte. Galvän war auch von großer
körperlicher Kraft, und unter anderen Umständen hätte
er ſich ſeines Angreifers wohl erwehrt, aber die Ueber-
raſchung, das bange Gefühl des plötzlich Ertappten,
lähmte ihn im ersten Augenblick geiſtig und körperlich.

„Hilfe! Hilfe!“ lärmte und tobte Joſs mit ſchriller
Stimme weiter. „Nehmt ihn feſt! Es ist der richtige
Pedro Ayala, der berüchtigte Schmuggler und Mörder!
hitte! Helft! Ich kann alles beweiſen. Nehmt ihn
e t!‘ y

Die hoch erhobene Waffe, das wütende Geschrei, das
wilde Kämpfen zweier Männer mitten in dem Gedränge,
wiewohl alles blitzschnell vor sich ging und kaum ſsekunden-
lug dauerte, lockte doch raſch eine Menge Menſchen

erbei. :

; Da plötlich gelang es Galvän, durch eine raſche
Wendung sich von seinem Angreifer zu befreien. Das
Meſſer wegwerfend, bahnte er sich schnell einen Weg
durch die gaffend herumſtehenden oder herbeieilenden
Menſchen, und ehe noch jemand recht wußte, was ge-
ſchehen war, ſprang er ſchon über die Straße hinüber,
wo die Droſchken standen.

Das war der zweite Fehler, zu dem er sich in seiner
Ueberraſchung hinreißen ließ. Zunächſt wurden dadurch
das Aufsehen und die Aufregung allgemein. In dem
Handgemenge war Galvän der Cylinder vom Kopfe ge-
fallen. Am Hals blutete er aus einer Kratwunde, und
am Rockärmel war die Naht geplatzt, ſo daß der ganze
Aermel faſt loſe herabhing.

Noch ehe er die Droſchke erreichte, hatte ihn Don
Joss mit der ganzen blitzartigen Gewandtheit der Süd-
länder wieder gepackt. Der Kampf der beiden Menschen,
die mit einer wahrhaft tieriſchen Wut und ſinnloſen
Wildheit aufeinander losfuhren, begann von neuem.
José tobte weiter und forderte die Umstehenden zur
Hilfeleiſtung auf, während Galvän empört ſchrie, er
habe es mit einem Wahnsinnigen zu thun, von dem
man ihn befreien ſolle.

Das dauerte gut zwei bis drei Minuten. Hunderte
von Perſonen umgaben die Gruppe, als endlich die
Polizei eingriff.

Galvän war bleich geworden wie der Tod. Seine
Lippen zitterten vor Wut und Aufregung, seine Augen
schillerten unheimlich.

„Ruhe! Keiner rühre ſich!“ schrie ein Polizeiſergeant,
der in der Poſt ſselbſt stationiert und herbeigeeilt war.
„Um was handelt es Fich ?“

„Binden Sie ihn, Herr Sergeant, er iſt ein mehr-
facher Mörder! Auf Ihre Verantwortung, wenn er ent- .
wiſcht!“ keuchte Joſé.

„Der Mann iſt wahnsinnig + befreien Sie mich von
ihm! Ich bin der Graf Galvän de Valverde. Ich ver-
lange Schutz von der Polizei.“

„Ich kann alles beweisen,“ schrie Joſé wieder aus
Leibeskräften. „Bringen Sie ihn nach der Polizei! Ich
gehe mit. Wie er ſich auch nennen mag, es iſt der
UU ee ſers qr. ? Enis? Ue tet th
seiner feinen Toilette! Er iſt der größte Schurke, der
in Spanien lebt.“

S „Ruhe! Ruhe!“ rief der Sergeant.
iet!

„Ich heiße Joſs Padia und bin ein Korkhändler
aus Burgos. Ich kann alles beweiſen. Führen Sie
uns vor einen Richter.“

„Ich verlange, daß man mich von diesem Verrückten
befreit!“ wiederholte Galvän.

Man stand mitten auf der breiten Straße, die nach der
Puerta del Sol führte. Nicht Hunderte, nein, Taufende
von Neugierigen umstanden jetzt ſchon die Gruppe. Ein
gewaltsſames Entweichen war für Galvän unmöglich,
und freiwillig ließ ihn Joss und auch die Polizei nicht
los. Mit jeder Sekunde wuchs das Aufsehen und der
Straßenauflauf.

Galvän biß sich vor Aerger die Lippen blutig. Hatte
er so oft dem Tode ins Auge gesehen, damit ihn ſchließlich
ein solcher Tölpel von Korkhändler ins Verderben ſtieß?
Denn daß sich's hier um alles handelte, verkannte er
keinen Augenblick. Schon jetzt bereute Galvän, daß er



*) Navaja ist die beliebteste Waffe der Spanier, ein Dolche
mesſſer, dessen zweischneidige Klinge etwas länger als eine
Hand ist, und das sie in der Schärpe oder in einer besonderen
Taſche versteckt bei sich tragen.

„Wie heißen j
 
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