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Das Buch für Alle.

Heft 11. -





„Das thu’ ich ja nicht, Mutter,“ stammelte ſie ver-
ſchüchtert, „nur ~ ich weiß mir keinen Rat mehr und
glaube nicht, daß man über wahrhafte Liebe jemals ganz

_ hinwegkommt!'"

Den Blick fest auf ihre Tochter geheftet, ſtand Frau
Arens einen Augenblick regungslos da, dann mit einem
Aufrecken der Gestalt: „Sieh deine Mutter an! Die
kam darüber hinweg, und was sie ſelbſt gekonnt hat,
verlangt sie auch von ihren Kindern.“

Faſſungslos rang Hildegard nach Worten.

„Du, Mutter + du hättest ~“ Und plötlich leiden-
ſchaftlich die Hände der Mutter umklammernd, Todes-
angſt im Gesicht: „Dann mußt du ja begreifen, wie
mich der Gedanke dem Wahnſinn nahebringt, daß ſie
sich morgen meinetwegen schlagen. Ich will für mich

nichts mehr vom Leben, hab’ auf alles verzichtet ~ nur

den Zweikampf muß ich verhindern. In meiner Ver-
zweiflung kam ich zu dir — hilf mir doch, Mutter!“
" ¿Das kann ich nicht. Aber sei stark, sei mehr mein

Kind.“

Die Arme ſchlaff am Körper herabgeſunken, starrte
die junge Frau vor ſich hin.

J„Ich wüßte ſchon, wie ich das Duell rückgängig
machen könnte," lautete endlich die unheimlich ruhige
Antwort, „allein –

î Wie von Ciſesſchauern überrieſelt, ſchüttelte ſie ſich

und taumelte zurück, als wäre etwas Enltsetliches vor

ihr aufgestiegen.

. „Nein ~– nein = das nicht + das darf nicht +
Ich bin ja sinnlos! Der Gedanke, daß er morgen viel-
leicht ſein Leben laſſen muß um mich, brennt mir das
Hirn aus.“

Hildegards zerquältes, jammervolles Aussehen weckte
nun doch miütterliches Mitgefühl in der harten Frau,
und an die Seite ihrer Tochter tretend, strich ſie ihr
liebevoll über das Haar.

So blieben sie ſchweigend eine Weile nebeneinander,
dann bat die junge Frau zögernd, nunmehr nach Hauſe
gehen zu dürfen. -. ;
§ Hit Mutter zeigte Erſtaunen über den ſchnellen Auf-
ruch.
dich 2" ;
„Nein = das heißt, ich weiß es nicht. Ich möchte
aber noch nach Roſi sehen ~ das Kind verlangt gewöhn-
lich um dieſe Zeit nach mir."

Haſtig begann sie bei diesen Worten die Haken der
Pelerine zu ſchließen und die Handſchuhe überzuſtreifen.

„Und grüß’ mir Elſa, Mutter! Sag. ihr, wie lieb
ich sie stets hatte.“

„Du ſiehſt ſie ja morgen ſelbſt,“ meinte Frau Arens,
verwundert über den feierlichen Ton der Tochter.

„Morgen –~© Ein verwirrtes, müdes Lächeln
glitt über Hildegards Gesicht. ~ „Gute Nacht, Mutter!“
ſagte ſie dann leiſe und preßte einige Küſſe auf die
Wangen der alten Frau.

„Gute Nacht, mein Kind, und Kopf hoch! Mach'

deiner Mutter keine Schande.“

Wie von Froſt durchſchauert erbebte Hildegard und

wandte ſich der Thür zu, von wo aus ſie noch einmal

hy! einem langen, gleichſam verzauberten Blick zurück:
aute. ; j

. „Leb' wohl, Mutter.“

„Du auch, mein Kind.“ :

z lhcoarvs Schritte verhallten im Flur, dann war
M . .

Schwer aufstöhnend legte Frau Arens ihren Kopf

„JIſt denn dein Mann daheim? Erwartet er

gegen die Lehne des Stuhles, auf welchem vorhin ihre

Tochter geseſſen hatte.
ihr Leben?
_ Der fahle Lampenſchimmer beleuchtete jeyt ein ver-
ſorgtes, altes Antlik, aus dem alle Spannung und

Kam noch immer nicht Ruhe in

_ Energie gewichen war.

Es klopfte, und Chriſtine trat mit der Frage ein, ob
f preh: den Willkommenskranz ordentlich feſtnageln
ürfe. i ;

Einen Augenblick ſchaute Frau Arens das grüne
Gewinde an, darauf zog sie die Stirn in Falten und
befahl kurz: „Nehmen Sie ihn ab! Er ſieht wirklich
aus wie ein Totenkranz.“

_ Das Mädchen ſtand zweifelnd.

„Tragen Sie ihn hinaus. Stellen Sie dem Fräu-
lein morgen dafür friſche Blumen auf den Tiſch.“

gKeopfſchüttelnd entfernte ſich Chriſtine..\

Nicht mehr lange währte es, da ſuchte Frau Arens
ihr Schlafgemach auf, um stundenlang wach zu liegen,
ehe ihr der Schlummer die Augen ſchloß. +

Kaum graute der Morgen, da ſchreckte ſie plöylich
heftiges Schellen der Hausthürglocke empor. Sie richtete
' Fich auf. und lache. .

Der Portier öffnete ~ dann Stimmengemurnmel.

_ Venruhigt ſank sie wieder in ihre Kiſſen zurück und

lag eine Weile so, als jemand den Korridor entlang

gelaufen kam und heftig an ihr Zimmer pochte.
„Gnädige Frau, machen Sie auf! Frau v. Wilda ~
th war Chriſtinens Stimme! Sie klang unheil-
verkündend. Mit stockendem Herzſchlag und wankenden
Knieen stürzte Frau Arens an die Thür, um faſt zu-



sammenzubrechen, als ſie das totenbleiche, faſſungslose
Mädchen gewahrte.

„Was iſt's mit meiner Tochter?"

„Ein Diener.kam eben ~ ach, himmliſcher Vater ~"

„Reden Sie!“

Der alte stramme Befehlston brachte die verstörte
Perſon zur Sprache.

tes v. Wilda + die gnädige Frau + hat ſich
erſchoſſen !“

Uto vom Blitz getroffen schwankte Frau Arens und
wäre gefallen, hätten sie nicht Chriſtines Arme auf-
gefangen. Des Mädchens Bemühungen gelang es erſt
ite: q! hie voll Gettscte le diu

„Die gnädige Frau iſt ja noch nicht tot," versicherte
Christine dabei fortwährend in ihrer Angst, „der Diener
sagte es ausdrücklich." ;

Eine abwehrende Handbewegung hieß sie ſchweigen.

Mit weißem, verfallenem Gesicht bestieg die alte
Frau dann endlich den bereits unten auf sie wartenden
Wagen, der ſie nach dem Hauſe ihrer Tochter führte.

Kaum in die prunkvolle, glänzende Villa eingetreten,
kam ihr Hildegards Gatte entgegen, ein ſtattlicher Mann
mit derbem, geſundem Alltagsgeſicht, das augenblicklich
y;cht yen yer Yllglihteichnt htttitethtecent! Unglücks
als von der were desselben ſprach. -

Auf einen ſtumm ;!sn Blick der gequälten
Mutter antwortete er dumpfen, grollenden Tones.: „Sie
iſt ſoeben verſchieden.“

Kein Aufschrei folgte.

„Führen Sie mich zu ihr,“ bat Frau Arens ruhig.

Wenige Minuten später stand die alte Frau mit
gefalteten Händen, das Haupt auf die Bruſt gesenkt,
vor der Leiche ihrer Tochter. Sie lag noch in voller Klei-
dung auf dem Sofa ihres Zimmers. Die Pistole war
ihrer Hand entfallen. Kein Todeskampf, kein Schmerz,
keine Wunde entstellte das Antlit, der Unglückseligen.

„Wie ~ kam es so?" Schwer rang ſich jedes Wort
einzeln aus der Bruſt der Mutter.

jz v. Wildas Augen richteten ſich vorwurfsvoll
auf die Tote.

„Sie wissen,“ stieß er mit rauher Stimme hervor,
„wir paßten von jeher nicht zu einander. Soll ich nun
ruhig bleiben, wenn ich plötlich erfahre, daß wir uns
deshalb nicht verſtehen konnten, weil meine Frau ſchon
vor meiner Zeit einen anderen liebte, den sie nicht ver-
geſſen kann, dem ich in. meiner Argloſigkeit mein Haus
E C H c ss;
laſſen. Heute früh sollte das Duell zwiſchen mir und
jenem stattfinden. Da, als ich mich eben zu dem schweren
Gange rüſten wollte, hörte ich in Hildegards Zimmer
den Schuß fallen. Nun ~ ſie lebte noch. Dort“ ~
er deutete nach einem zerknüllten Zettel auf dem Tiſche +
„das bestimmte sie Ihnen, Mutter.“

Wilda schwieg. Furchtbare Erregung ließ ſeine Bruſt
mächtig auf und nieder wogen, ſeine Zähne knirſchten
hörbar gegeneinander.

„Sie starb um ihn! Aus Furcht für sein Leben!“

Die geballten Fäuſte gegen die Stirn preſſend, stürzte
er aus dem Zimmer.

„Mein Kind ~ Hildegard, warum thateſt du mirdas ?"

Mit zitternden Händen nahm Frau Arens den ihr
von der Tochter hinterlaſſenen Zettel vom Tiſche.

Die großen, unfertig kindlichen Buchſtaben ver-
schwammen vor ihren Augen. Mit Mühe entzifferte sie:

„Liebe Mutter!

Jetzt, wo ich tot bin, dürfen sie ſich nicht mehr
ſchlagen. Das iſt mein letter und einziger Wunsch,
um den ich ſterbe. Du hast mich gezwungen, einem un-
geliebten Mann die Hand zu reichen, und ich habe meine
Pflichten ihm gegenüber nicht verletzt. Aber ich will
ich kann nicht mehr so weiterleben im steten Kampfe

zwischen Liebe und Pflicht. Mein Kind nimm zu dir,

Mutter. An Elsa einen letzten Gruß.
und verzeiht mir."
Das Papier entſank den Händen der Mutter und

Lebt alle wohl

flatterte zu Boden. Minutenlang stand sie wie erstarrt

und schaute regungslos vor ſich hin.

„Um ihn alſo,“ murmelten ihre Lippen, „um ihn
in den Tod."

Und plötzlich ging ein Ruck durch ihre Gestalt, der
sie straff machte, und drohend warf sie die Arme empor.
„Mörder meines Kindes – Mörder sei –~"

Bewußtlos stürzte ſie zu Boden.



ZBweites Kapitel.

„Glück! Du sonniges, seliges, unfaßbares, immer

begehrtes! Jetzt halt’ ich dich und lass' dich nicht wieder!“

Sie hatte es hinaufgejauchzt zum blauen Himmel
und hätte am liebſten die Arme ausgebreitet, um die

ganze herbstlich bunte Welt, die da draußen an ihr

vorüberflog, und die ihr immer bekannter, immer ver-
trauter wurde, je mehr die lange CEiſenbahnfahrt ihrem
Ende nahte, an ihr jubelndes Herz zu ziehen.

Und doch hatte Elſa v. Linden in ihren düſteren

Trauverkleidern so wenig Anlaß zu diesem berauſchenaden.

z



Luſtgefühl, denn ſie kam aus einem Sterbehauſe. Ihrer
Mutter Schweſter, bei der sie jahrelang gelebt hatte, ja
deren Namen sie gesetzlich trug, war plötzlich einem
Squzlut zu der Schmerz um den Tod einer alten
Frau, neben der ihr junger, stürmiſcher Lebensdrang
unterdrückt worden war, im Vergleich zu dem mustel-
ſchwellenden Bewußtsein, nun frei zu sein von dem auf-
gezwungenen Betteln um die Gunſt der Verwandten,
frei von einem dumpfen, nutzloſen Leben, frei, um einer
Zukunft an der Seite der ſehnſüchtig begehrten Mutter
entgegengehen. zu können!!

Den Blondkopf in die Wagenpolster gedrückt, die
Augen strahlend durchs Fenster in die Weite gerichtet,
saß sie in ſich versunken da, und ihre Gedanken ſprangen
von einer Vorstellung zur anderen. -

Sie ſah ſich daheim in dem einſtigen Mädchen-
stübchen der Schwester, sah ſich in inniger Gemeinſchaft
mit der Mutter, sah die lang entbehrten Lieben wartend
auf dem Bahnhofe stehen. Natürlich würden ſie dort
sein, um sie heimzuholen! Vielleicht hatte Hildegard
sogar ihr Kindchen mitgebracht!

Ach, jetzt erſt fühlte ſie so recht, wie bitter, wie

lange fie ihre Heimat entbehrt hatte! Beinahe acht Jahre
hatte sie – abgesehen von einigen Beſuchswochen im
Elternhauſe + bei der verwitweten, kränklichen Tante
geweilt!! Und das alles nur, um dermaleinſt die Erbin
der irrtümlicherweiſe für reich gehaltenen alten Frau
zu tocrhen und durch Adoption ihren adeligen Namen
u erhatten.
j v den Namen brachte sie ja der auf ihre blau-
blütige Herkunft noch immer stolzen Mutter mit heim,
aber von der erwarteten großen Erbſchaft waren nur
wenige tauſend Mark für sie übriggeblieben.

Den Wert des Geldes unterſchätend, nahm Elsa
ihren traurigen Vermögenszustand nicht allzu schwer.
Es würde ſchon Rat werden daheim! Schweſter Hilde-
gard war reich genug verheiratet, um dafür Sorge tragen
zu können, daß sie fortan zu Haus bleiben durfte, ohne
die knappe Penſion der Mutter, die eben kaum für dern
Bedürfnisse ausreichte, zu schmälern. Die kommende
Zeit trug in ihrer Phantaſie die fröhlichſten Farben,
und über alles leuchtete die immer fieberhafter hervor-
brechende Erwartungsfreude.

So langsam Elſa die Zeit auch dahinſchlich, endlich er-
ſpähte sie doch in der Ferne die Türme und Häuſer der
Heimatſtadt. Die Schnelligkeit des Zuges mäßigte ſich
mehr und mehr, dann dumpfes Rollen und Stampfen,
Lärm, Menſchengewühl ~ das Ziel war erreicht.

Ihre Handtaſche ergreifend, ſprang Elſa behend aus
dem Wagen und schaute ſuchend um sich. Da hörte ſie,
wie hinter ihrem Rücken ihr Name gerufen wurde, und
sich schnell umwendend, blickte sie ihrer liebſten Schul-
freundin in das Gesicht.

„Du, Marianne?! . ;

„Und meine Wenigkeit!“ klang eine friſche Männer-
stimme in den Begrüßungssſturm der jungen Mädchen
inein. ;

G „Ach, Fritz, du auch?“ j <

Doch kaum hatten Elſas Augen flüchtig die ihr be-
kannte und doch so fremd gewordene Gestalt geſtreift,
als sie verwirrt ihre vertrauliche Anrede verbesserte:
„Wie liebenswürdig von Ihnen, Herr Aſſesſor, daß Sie
Ihre Schwester hierher begleiteten. Aber wo ſind nun
meine Angehörigen?“ * ;

Auf Mariannes lebensfrohem Antlitz malte sich Hill:.
loſigkeit; sie warf dem Bruder flehende Blicke zu. Dieser
rang in offenbarer Beklemmung nach Worten. ,

„Fräulein Elſa, wir müſſen Ihnen leider eine große
Enttäuſchung bereiten, denn wir tommen in Vertretung
? “ ns Ur q "tte cv der Meinigen
abholen?“ unterbrach das junge Mädchen ihn völlig
arglos. „Was hätte wohl meine Schwester daran ver-
hindert?"

„Komm nur erſt vom Bahnſteig herunter, Elſa.
Und dann deinen Gepäckſchein, bitte! Ich ordne alles,
beſorge Wagen und Jo weiter."

In auffallender, ängstlicher Geschäftigkeit um die
Freundin bemüht, eilte Marianne voran.

Fritz Normann und Elsa folgten langsam. Ersſt
eine abermalige Frage seiner Begleiterin nach ihren Ver-
wandten erpreßte ihm die dumpfe, zögernde Antworte
„Ich muß Ihnen wehe thun, Fräulein v. Linden. Jhre
Frau Mutter konnte Sie nicht hier empfangen, denn,
denn Ihre Schwester iſt plötzlich heftig erkrankt.“

Elsas geſenkter Kopf fuhr erſchreckt empor. „Hilde: -
gard krank? Und ſchwer?Ü : .,

„Ja, Clſa, faſſen Sie ſich, es iſt daheim ein Unglück
eſchehen!“ : ;
Mt h junge Mädchen wurde totenbleich und blieb
einen Augenblick zitternd stehen.. +

Fritz Normann reichte ihr den Arm, den sie willen-
los nahm. Ein banges Schweigen war zwischen ihnen

— die Scheu der lebensfrohen Jugend vor dem Ge-

heimnisvollen, Schrecklichen, das alle Hoffnungen und
Wünsche im Nu zu nichte macht. .
Inzwischen kam Marianne zurück, und da ſie an
 
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