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278

deſto mächtiger wirkte, je unbegreiflicher er ihm war. —
Faſt wie Heimatsgefühl überkam es ihn in ihrer Nähe.
Und sie war ihm doch eine völlig Fremde.

Ja, wie sie ihm nun, mit eigener Art zu lächeln und
so ussuz zg wssl:5%45:
Ii igtes im Begriff, von ihrer Erlaubnis, neben ſie
niederſitzen zu dürfen, Gebrauch zu machen, hinderte ihn
zu seinem Mißvergnügen das plötzliche Hinzutreten des

Forſtaſſeſſsors Normann daran, der ihn auffallend wort- |.

reich begrüßte und ſich dann an Elsa mit der Bemerkung
wandte, seine Schwester ſerviere im Nebenzimmer den
Thee, wobei sie gewiß wegen der Zahl der Gäste nach
Hilfe ſchmachte.

„Die kann ihr werden,“ lächelte ſie, „wenn die
Herren hier meine Abwesenheit entſchulvigen."

Schweigend verbeugte sich der Doktor, und im Nu
huſchte sie davon. Fritz aber strich besonders innig
léty hustet Schnurrbart und zog den jungen Arzt
mit sich fort.

L nur wenige Minuten ſpäter, und Elſa v. Linden
saß wieder an ihrem alten, verſteckten Plate im halb-
dunklen Hintergrunde des kleinſten Gemaches. Mit un-
froher, gepeinigter Miene starrte sie in ein aufgeſchlagenes
Bilderalbum hinein, ohne eigentlich etwas zu ſehen.
Ihr Herz pochte dumpf, ihre Lippen zuckten. Ein Un-
gefähr der Erfahrung hatte finstere Wolken um ihr
Denken und Empfinden aufgetürmt.

Und was war dieſes Ungefähr geweſen? Ein
Flüſtern ~ ein Verſtummen + hie und da eine höf-
liche, aber deutliche Ablehnung ihrer Person, als sie
sich vorhin in den Kreis der Geſsellſchaft gemiſcht hatte.

nge!!! that man ihr das an? Um ihrer Schwester
willen? ~

„Gnädiges Fräulein, so vertieft? Störe ich?"

Ueberraſcht und erfreut aufblickend, begegnete sie Doktor

_ Dernburgs fragend auf sie gerichteten Augen. Die

Rechte auf das Tiſchchen geſtützt, an dem sie ſaß, ſtand
er ihr gegenüber. Jeder Zug ſeines froh erregten Ge-
sichtes verriet ihr, daß er ſie geſucht hatte.

„Sie reiſen da, wie ich ſehe." Er deutete auf die
Bilder. „Darf ich Sie begleiten?“

„Wenn Sie die Seekrankheit nicht ſcheuen – ich
bin auf hohem Meere augenblicklich.“

Trotz ihrer troſtloſen Stimmung vorhin vermochte
sie jetzt, ihren Worten munteren Klang zu verleihen.

Er rückte ſich den Seſſel an ihrer Seite zurecht und
lachte zaghaft, wie einer, der es ſeit langem nicht gethan.

„Wissen Sie auch, gnädiges Fräulein, daß ich die
Reiſekoſten für Sie gezahlt habe? Die Ansichten sſtammen
nämlich von mir; ich brachte ſie Frau Maria von meiner
leßten Sommerreise mit.“

„So? . Ach! Alſo da waren Sie überall?:.

Mit besonderem Interesse betrachtete ſie nunmehr
die Bilder, die sie gerade vor ſich hatte. Es waren An-
sichten vom Helgoländer Badestrand.

Langſam wandte sie eine Seite nach der anderen

um. Und plötzlich ein Ausruf des Staunens.

„Norderney! Sie kennen Norderney auch?"

Er zögerte mit der Antwort.
meiner diesjährigen Erholungszeit auf Norderney,“ sagte
er dann, nach einer abermaligen Frage von ihr, langsam,
mit stockender Stimme.

Auf Clas Antlitz kam und ging die Farbe. „Wenn
ich nicht irre ~" wie gebannt blickte sie eine der Land-
schaften an, „wenn ich nicht irre, ſah ich dies Bild
ſchon, gerade dieſes, mit dem freien Blick aufs Meer
von den Dünen aus.“

Doktor Dernburg zog die Stirn in Falten und machte
eine Bewegung, als wolle er die Mappe ſchließen.

„Noch einen Augenblick,“ bat sie lebhaft, verſenkte

: ſich aufs neue in die Betrachtung der Ansicht, und plötzlich,

nach kurzem Sinnen, wußte sie, daß ſie das Bild wirklich
schon einmal gesehen, und zwar im Stizzenbuch Hilde-
gards, wo sie es als besonders gelungene Zeichnung be-

_ wundert hatte.

_ Die Erinnerung daran weckte allerhand Vermutungen
in ihr.

Prelleicht befand sie sich einem Menſchen gegenüber,
der zu gleicher Zeit mit ihrer Schweſter am ſelben Ort
geweilt, der sie möglicherweise gekannt, gesprochen hatte,
der infolgedeſſen milder über ſie urteilte als die anderen.

Eine Welt von Fragen in den Augen, ſchaute sie
§erwbuts an. „Waren Sie etwa im Juli an der See,

err Doktor?"
H Er bejahte; ein Schatten flog dabei über ſeine Stirn.

Elſas Wangen färbten ſich höher, ihre Hände preßten
sich auf das unruhig klopfende Herz.

„Dann = das Bild hier bringt mich auf eine Frage:
Haben Sie vielleicht meine –~“ Unerklärliche Scheu hielt
ſie plöglich davon ab, das Wort Schwester auszuſprechen,
und sie umging es. „War Ihnen vielleicht auf Norderney
Frau v. Wilda bekannt?“

_ Elin faſt unmerkliches Zucken ging durch des Doktors
Gestalt, und mit bestürzter Miene wandte er das Gesicht
zur Seite. „Ja — ich habe ſie gekannt!‘

Seine Stimme klang rauh und feſt.

„Ich war während



Da s B uc< f ü x A l! le.

„Ah, wirklich!“ Leuchtenden Blickes fuhr Elsa auf.
Und nun fieberhaft, hastig, fliegenden Atems: „Sie
waren an der See mit ihr zuſammen? Oft? Sie ſprachen
tit ihr, ſahen Sie? Wie war ſie ~ traurig, krank
pver !!

Hier mit heißem Schrecken erkennend, daß ſie un-
begrenztes Vertrauen zu dem Manne, den sie kaum
kennen gelernt hatte, fortriß, ihm die ganze hilflose
Qual ihres Nichtwiſſens zu offenbaren, brach ſie ab und
senkte errötend die Augen.

So sah sie nicht, wie ſich die ſeinen mit forſchender
Unruhe in ihr Antlitz bohrten, während es leiſe, zögernd
von seinen Lippen kam: „Frau v. Wilda hat Ihnen
nahegestanden, gnädiges Fräulein?"

Elſa hob den Kopf; in ihrem Tone zitterte ſchmerz-
liche Erregung. „Sie war meine Schwester!“

Dem Blitze gleich traf ihn diese Antwort. Totenbleich
geworden, beugte er sich unwillkürlich weit zurück, wie
vor etwas Enſtseglichem.

Ihre Schwester! Das alſo war's, was ihn vom
erſten Augenblicke an in ihren Bannkreis gezogen hatte!
Die Aehnlichkeit mit der Verstorbenen hatte ihm das
unbegreifliche Heimatsgefühl in ihrer Nähe eingeflößt!
Und er war blind gewesen, hatte das Bild nicht wieder-
(xkqut. das ihn jetzt aus jedem Zug ihres Gesichtes an-

ickte.

Sein verändertes Aussehen entging ihr nicht, und
sie drückte ihr Befremden darüber aus. „Wundert Sie's
ſo sehr, daß ich Frau v. Wildas Schwester bin? Ich
nahm vorhin an, Sie wären näher mit ihr bekannt ge-
tze Allerdings, meinen Adoptivnamen erwähnte sie
nicht gern.“

Woll hörte er ihre Worte, aber es fiel ihm zunächst
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H . , '
atemraubendes Zukunftsahnen!

Ihre Schwester! Dies blühende junge Wesen hier
vor ihm die „kleine" Schwester, von der sie ihm ge:
sprochen, für die er ſich nie intereſsſiert, und von der
tut re: qcrust hut an e‘ t quute
kehre. Gesehen hatte er sie nie. Und nun diese Er-
öffnung!

ſ 1:2 mühſam riß er ſich aus seiner Erſtarrung. Wie
aus ſchwerem Traume erwachend, strich er haſtig über
Stirn und Augen.

„Ja ~ gewiß," brachte er ſchließlich unsicher hervor,
„ich erinnere mich. Frau v. Wilda sprach von einer
Schwester. Aber, gnädiges Fräulein, Sie verzeihen,
weytuich jet ' Er machte eine Bewegung, als wolle
er ſich erheben.

. Da, j Elsa deutlich fühlen mußte, daß er beſtrebt
war, von ihr fortzukommen, dämmerte eine Mutmaßung
in ihr, die ihr Eiſesſchauer über den Körper jagte.

War es möglich? Sollte auch er wie die anderen
urteilen – verurteila – und die Lebende um die
Schuld einer Toten verdammen? Dann mußte diese
Schuld unſühnbar sein! Sie vermochte nicht weiter zu
httler. 4.1 ehe sie ſich's versah, war ſie dicht vor ihn

ingetreten.

jj ~ ich möchte – ich muß " stammelte sie
leiſe, leidenſchaftliches Flehen in der Stimme. ,Ich
weiß ja ſelbſt nicht, warum ich's gerade von Ihnen
wiſſen möchte, ob auch in Ihren Augen Hildegards
unselige That die große, unverzeihliche Todſünde iſt.“

Jäh hatte er sich erhoben. Und halb abgewendet
von ihr, kam es ſchwer, tonlos über seine blutleeren
Lippen: „Das ~ das mäüſssen Sie mich nicht fragen.“

Damit war er gegangen. Unvermittelt, unhöflich faſt.

Jasſungslos starrte ſie ihm nach, und es war ihr,
als sei der schimmernde Kerzenglanz um sie her erloſchen.

Was war geſchehen? Was hatte ſie mit ihrer küh-
nen, unvorsichtigen Frage in ihm aufgewühlt? Sie
sann, grübelte ~ und plötzlich überkam es sie wie eine
Offenbarung.

Eine einzige Möglichkeit gab es, die ſein ganzes
wunderliches Benehmen erklärte und rechtfertigte. Die
etwas Liebes entriſſen! Wie begreiflich dann sein Zurück-
weichen! Die Erinnerung an Hildegards Ende hatte
sicherlich sehr Trauriges in ihm erweckt. Und zugleich
mit dem Bewußtsein, ihn nun zu verstehen, fühlte ſie
allgewaltig, wie nahegerückt er ihrem eigenen Herzen
wäre, wenn er gemeinsames, heimliches Leid mit ihr
trüge!

Später, als Elſa bei ihrem Weggange vorausgesehen

hatte, kehrte sie an diesem Abend heim. Die Mutter

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zu führen. Sie beklagte ſich überhaupt nie; nur ſchwei-
gend zeigte ſie ihre Verſtimmung, wenn es ihre Um-
sébunsg nicht verſtand, ihr die Wünſche von den Augen
abzulesen.

hu was Elsa jetzt täglich in den Augen der Mutter
lesen konnte, war Grauen vor dem Alleinsein. Folglich
hielt sie ſich daheim, soviel sie vermochte, obwohl ſie
oftmals heißes Sehnen nach Menſchen empfand, die ſo



Heft 12. .

sprachen und dachten wie sie mit ihren zweiundzwanzig
Jahren. Alber diese lebendigen Ichregungen drückte die
Hand der Mutter gar bald wieder zu Boden > dieſe
feine weiße, herriſche Hand, die nie züchtigte, aber fest
zuzufaſſen verſtand.

Nur der Umstand, daß ihre Tochter im Jntereſſe
der kleinen Roſi gezwungen war, ihre alte Friſche und
Fröhlichkeit möglichſt raſch wiederzugewinnen, hatte
Frau Arens, nachdem sie eingeſehen, daß Elſa zu Haus
nicht genügend AÄufheiterung fand, veranlaßt, ihr be-
ſcheidene auswärtige Geselligkeiten anzuraten.

Heute nun, wo Elſa nach längerem Ueberlegen zum
erſtenmal einen größeren Menſchenkreis aufgeſucht hatte,
war Frau Arens begierig, zu erfahren, was ſie von der
Außenwelt mit heimbrachte, und trot der vorgerückten
Stunde bat sie ihre Tochter, noch ein paar Minuten
bei ihr zu verweilen.

Im Beſtreben, ihrer Mutter das lange Ausbleiben
vergeſſen zu machen, sagte Elſa bereitwillig zu, obwohl
sie lieber mit ihren Gedanken allein geblieben wäre. Jm

Êtraulich warmen Wohnzimmer saßen sie bei einander, und

der Lampenſchein umſspann sie mit gelblichen Schleiern.
Frau Arens lehnte im Sofa, und ihr beobachtender Blick
fand die Tochter müde und abgespannt.

„Was iſt dir, Elſa? Haſt du dich nicht gut unter-
halten? Ich denke, Frau Professor Jaſtrow ist so außer-
ordentlich anziehend ?“ ;

Wie auf unrechtem Gedankengang ertappt, verfärbte
sich Elſa und meinte, zerſtreut an der Tiſchdecke neſtelnd:
g?atirligh , gewiß! Es verkehren auch allerhand interessante

eute bei ihr."

„So? §t . ren sie dir alle fremd ?“

„Nein,“ klang es seltſam gedehnt zurück, „das heißt,
man schien mich zu kennen.“

Heiß tropfte es plöglich auf Elſas Hände hernieder.

„Ja, was haſt du denn?“ fragte die Mutter und
runzelte die Stirn. „Etwa gar nervös ?Ü" ;

„Nervös !“ Das junge Mädchen warf den Kopf
zurück. „Ich wollte, ich könnte dir's sagen, was mich
quält! Aber du klärſt mich doch nicht auf. Ich hab's
ja während der Monate meines Hierſeins von Tag zu
Tag mehr erfahren müssen, daß ich für die allernatür-
lichſten Dinge blind bleiben ſoll!“ .

K „Komm zur Sache! Aber, bitte, ruhiger, mein
ind!“

Mein Kind! Ja, ja, sie hatte es daheim ſchon zu
lernen begonnen, wie unberechtigt es gefunden wurde,
wenn sie ihr eigenes, hilfloſes, verwirrtes Denken und
Fühlen offenbarte! Kinder haben keine Meinung. Trot-
dem wollte, mußte sie jetzt ſprechen !

„Gut denn, Mutter, höre, was mich peinigt! Man

benahm ſich bei Frau Jaſtrow ſsehr eigentümlich gegen
mich. Wer mich kannte, vermied mich; zudem = es iſt
nicht zum erstenmal so ~, Mutter, es ſchleicht etwas
umher und flüstert. Nenne mir's, was es iſt, damit ich
es faſſen kann, damit ich mich wehren kann!“

Das alles war im wilden Ungeſtüm hervorgeſprudelt,
und jetzt hielt Elſa beide Hände der Mutter umklammert,
während ihre Stimme leiſe und weich wurde. „Sprich
mit mir wie mit deinesgleichen, Mutter, und sage mir,
.

Heftig löste Frau Arens ihrer Tochter Finger von
den ihren und machte eine abwehrende Bewegung.

Doch unbeirrt fuhr Elſa fort: „Nein, Mutter, du
darfst mich nicht von dir weiſen! Ich sehe und höre.
Wohl vermag ich ungefähr zu ahnen, wessen man Hilde-
gard anklagt. Das Benehmen ihres Gatten verrät es
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zahlung für die seinem Kinde erwiesene Liebe! Mutter,

kläre mich auf! Urteilt er, urteilt die Welt gerecht ?
Und wenn es so iſt – wer war dann der Elende, der
meiner Schwester Ruf vernichtete ?"

Frau Arens war ſehr bleich und atmete ſchwer. Es
dauerte lange, bis sie ihre Festigkeit wiederfand und
ein herriſches „Schweig !“ rief. „Ich mag solche Scenen

nicht, das weißt du."
That, von der sie geſprochen, hatte ihm ſelbſt vielleicht |

Freundlicheren Tones setzte ſie nach einer Pauſe
hizzu: „Geh jetzt zur Ruhe! Du biſt krankhaft erregt,
Kind.“

Elsa trat weit von der Mutter zurück. Eine Pauſe
des Schweigens –~ und ſtill wünſchte sie gute Nacht.

In ihr aber gärte ſchamerglühte Empörung. Gegen
wen? Gegen was? Sie wußte es nicht.

In ihrem Zimmer trat sie auch heute, wie allabend-
lich, bevor sie zur Ruhe ging, an das Bett der kleinen
Rosi, das ſich dicht neben dem ihrigen befand, und
beugte sich darüber. Und angesichts des ſchlummernden
Lockenköpfchens flammte noch einmal mit wildem Haß
das Verlangen in ihr empor, jene Stunde zu erleben,
die ihr den Gewissenlosen zeigen würde, der dieses Kind
mutterlos gemacht hatte, dann aber fand ſie ihr Gleich-
maß, ihren Frieden wieder.

Um das glühende Gesicht zu kühlen, ſchritt sie dem
Jenster zu, ſchob die Vorhänge zurück und drückte die
heiße Stirn gegen die Scheiben. So ſtand sie lange
und sah in die klare Winternacht hinaus.

Jüngste Erinnerungen zogen an ihrem Geiſte vor-
 
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