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494

Das Buch für Al le,

Heft 21.





Kranken, deſſen Stunden gezählt sind. In Lande-
pereuse hatte er das allgemeine Vertrauen zu gewinnen
gewußt. Inſtinktiv hatten die Kinder Richardiers er-
raten, daß die Vergangenheit dieses Mannes eine ſehr
schmerzliche sein müsſe, was auch der Grund ſeiner
immerwährenden Traurigkeit ſein mochte. Sie ſtellten
seinen Schmerz mit dem ihres Vaters auf eine Stufe
und übertrugen auf Gordon einen Teil der Liebe und
des Mitgefühls, welches ſie für jenen empfanden. .
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unternehmer aufs neue in ein Meer von Erinnerungen
versenkte, gab er dem Doktor eine ausführliche Schil-
derung des Unglücks, welches ihn betroffen.

Mit geſchloſſenen Augen in seinen Seſſel zurück-
gelehnt, hatte ihm Gordon schweigend zugehört, ohne
ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. Es war an
. einem Dezemberabend, und draußen heulte der Wind

und ließ die Pappeln ächzen und wimmern wie einſt

die Kaſtanienbäume um das Haus auf dem Boulevard
Pereire. Der Schnee fiel in dichten Massen, wie in
der Nacht, welche auf das Verbrechen Jean Vandales
gefolgt war. Als Richardier geendet hatte, richtete ſich
Gordon plötzlich auf; sein Geſicht war von einer töd-
lichen Bläſſe überzogen. j

Er sprach kein Wort, um dieſen Mann zu tröſten,
der nach so vielen Jahren noch ſein zerſtörtes Glück
beweinte, ſondern schritt auf das Fenſter zu, welches

er trotz Schnee und Sturm öſfnete, und verharrte lange

dort. Endlich kehrte er zu Richardier zurück, drückte
ihm schweigend die Hände und entfernte sich eilends.

; Den Namen dicſes Mannes hatte der Beamte in
Blois genannt und zu ihm begab sich der Graf v. Al-
bernon, um ihm zu danken, aber auch um Aufklärung
§ ſethzet. on bei den erſten Worten, die Renaud

ſprach, unterbrach ihn der Doktor, indem er ſagte:

„Es iſt so, wie Sie ſagten, Herr Graf.“

„Haben Sie indesſen bedacht, mein Herr, wie demü-
tigend eine derartige Großmut für mich sein muß?"

„Nein, Herr Graf, denn ich kann hierin nichts Be-
leidigendes erblicken. Immerhin will ich Ihnen die
teu Wahrheit gestehen, damit Sie mir keinen Groll
nachtragen. Ü ;

' ;§ù Ihnen Groll nachtragen!“ widerſprach der

raf.
„Oder wenigstens keinen Unmut gegen mich nähren,
der Ihrer verletzten Eigenliebe entſpringen könnte. Ich
spielte in der Angelegenheit bloß die Rolle des Ver-
mittlers und hatte nicht die entfernteſte Kenntnis von
der Verlegenheit, in die Sie geraten waren.“

„Wer iſt alſo eigentlich der großmütige Freund?"

Der Doktor dachte eine Weile nach und sprach dann
ernst: „Das werden Sie wohl ſchwerlich jemals er-
fahren, Herr Graf.“

„Weshalb?“

„Weil ich allein die betreffende Perſon kenne und
geſchworen habe, sie niemand zu nennen.“

„Sie wollen mir also nichts verraten?“

h r! iſt mir nicht möglich, da mich mein Versprechen
bindet. -
Renaud sah ein, daß er da nichts ausrichten könne,
und hub nach kurzem Beſinnen von neuem an: „Es

bleibt mir demnach nichts anderes übrig, als alles auf-
zubieten, um Ihnen dieses Geld in möglichſt kurzer
Zeit zurückzuerſtatten. " :

„Das ist Ihr gutes Recht, Herr Graf, “ erwiderte

der Amerikaner, „und ich werde auch weiterhin gerne
hen üerwitttler abgeben. Sie brauchen ſich aber nicht
u beeilen....
h Schneller als er gehofft, konnte sich der Graf seiner
Schuld entledigen. Einige Freunde, die er in den guten
Zeiten beseſſen, zahlten ihm die Beträge zurück, die
er ihnen früher einmal vorgeſtreckt, und so konnte er
ſchon zwei oder drei Monate später nach Rouches gehen,
um Gordon das Geld zu übergeben.

„So schnell schon, Herr Graf?" sprach der Ameri-
kaner. „Der kleine Dienſt laſtete wohl sehr ſchwer
auf Ihnen?“

„Ja," erwiderte der Graf nicht ohne Würde, „er
laſtete auf mir wie eine Beleidigung, deren Urheber
ich nicht nachforſchen durfte. “ :

„Wenn die Person," sagte Gordon langſam und

nachdenklich, „der ich morgen dieses Geld einhändigen

werde, Sie so ſprechen hörte, ſo würde ſie darüber
sehr gekränkt sein."

Die beiden Männer reichten sich die Hände, und
Renaud sagte ſich unterwegs:: „Gordon wird alſo morgen
meinem unbekannten Wohlthäter das Geld übergeben.
Vielleicht könnte ich hinter das Geheimnis kommen,
wenn ich ihm aufpaßte und ihm nachginge, um zu ſehen,
mit wem er zuſammentrifft.“ .. .

Und am nächſten Morgen verlor Renaud, hinter

einem dichten Gebüſch verborgen, das Gebäude keinen

Moment aus den Augen.
Er brauchte nicht lange zu warten, bis der Ameri-
kaner erschien und zu Fuß den Weg nach Landepereuſe



einschlug. Von weitem folgte ihm der Graf, wobei
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den laſſen, denn Gordon wendete ſich thatſächlich dem
Schlosse Richardiers zu, und er fragte ſich voll Staunen,
was das wohl zu bedeuten habe.

Plötzlich erschien, als die Umrisse von Landepereuſe
hinter den hohen Bäumen, deren Laub bereits herbſt-
lich gelichtet war, ſchon sichtbar wurden, eine junge
Dame auf dem Waldwege, auf dem der Amerikaner
daherkam, bei deſſen Anblick sie die Schritte beſchleunigte.
Es war Margarete Richardier.

Der Doktor und das Mädchen ſchritten aufeinander
zu, reichten sich die Hände und blieben inmitten des

Weges stehen. Der Graf war zu weit entfernt von

ihnen, als daß er hätte hören können, was ſie mit-
einander sprachen; doch sah er, wie Georg Gordon
seiner Briestaſche nach wenigen Minuten einige Bank-
noten entnahm und sie Fräulein Richardier reichte,
tuut beide in der Richtung nach Landepereuſe weiter-
hritten.

Tief bewegt blickte er ihnen nach, während er mur-
melte: „Alſo Margarete war es!“

Und nachdenklich, ganz verwirrt durch dieſe Ent-
deckung, trat er den Heimweg an. Daheim angelangt
teilte er Helene, der seine nachdenkliche Miene auffiel,
alles mit, und als diese sich allein befand, erwog und
beleuchtete auch ſie die Sachlage von allen Seiten, ohne
aber eine Erklärung finden zu können.

„Die Tochter Richardiers?“ murmelte sie.
halb gerade sie?"

„Wes-



11.

Saviniens Verhalten der verletten Julie gegenüber
war geradezu genial gewesen, wie sich Helene aus-
gedrückt hatte. Er zwang Richardier zur Dankbarkeit,
und der Mann ließ thatſächlich nicht lange auf ſich
warten.

Noch an demſelben Abend fand er sich tiefbewegt
im Hauſe des Grafen ein, wo er deſſen Vetter ener-
giſch die Hand drückte und mit vor Rührung erſtickter
Stimme sagte: „Sie haben meine Nichte vor einem
furchtbaren Tode gerettet, Herr Graf. Was kann ich
thun, um Ihnen zu beweiſen, daß ich troy meiner

vielleicht etwas rauhen Außenseite kein Undankbarer

bin?"

Er ließ die Hände Saviniens los, um die Helenens
zu drücken, die hinter einem freundlichen Lächeln ihren
Haß verbarg, und wendete ſich endlich zu Renaud, der
trotz ſeiner Aufregung ein wenig erſtaunt darüber war,
daß er Richardier, seinen Feind, unter ſeinem Dache,
in ſeinem Zimmer ſah! ;

„Sie überſchäen die Bedeutung des von mir ge-

leiſteten Dienstes, Herr Richardier,“ sagte Savinien

heiter. „Es hat sich, wie Sie ſehen, nicht nur nichts
Nachteiliges daraus für mich ergeben, sondern ich bin
sogar überzeugt, daß Ihr Fräulein Nichte auch ohne
meinen Eingriſf mit einem geschwollenen Arm und
etwas Fieber davongekommen wäre.“

„O nein, " widerſprach Richardier, „bei ihrer ſchwachen
Konstitution bildete der bloße Schrecken ſchon eine ernſt-
liche Gefahr für sie. ~ Habe ich recht, Doktor?"
wandte er sich zu dem Grafen.

„In Anbetracht ihrer hohen Nervosität glaube ich
sſelbſt, daß Ihre Fräulein Nichte einer großen und ernſt-
lichen Gefahr ausgeſettt gewesen wäre. “

„Herr Graf, ich bitte Sie, allen kleinlichen Streit
der Vergangenheit zu vergeſſen und Landepereuſe fortan
als Ihr Haus zu betrachten. + Und Sie, mein Fräu-

| lein," fügte er zu Helene gewendet hinzu, „bitte ich
inständigſt, sich dieser Verſöhnung nicht zu widersetzen. “

K gets nicht, Herr Richardier !“ sprach das junge
ädchen.

Renaud hätte unter dem Einfluß der Erinnerungen
der Vergangenheit die ihm entgegengeſtreckte Rechte
vielleicht dennoch zurückgewiesen, wenn ihm nicht ein
gebieteriſcher Blick seiner Schwester den Mund ver-
ſchloſſen hätte. Er war gewohnt, ihr zu gehorchen;
Sklave dieses jungen Wesens, besaß er in ihrer Gegen-
wart weniger Willen und Energie wie ein Kind, und
auch jetzt ließ er den Kopf sinken und ſchwieg.

Statt seiner erwiderte Helene: „Sie werden mich
ganz glücklich machen, wenn Sie mir Gelegenheit bieten

werden, Ihnen unsere Sympathien zu beweiſen. “

Auf dieſe Weise wurde eine Verſöhnung der beiden
Familien herbeigeführt, und Savinien der Zutritt in
Schloß Landepereuſe erſchloſſen, wie Helene es wünschte.

Bald darauf vereinigte ein feierliches Mahl alle
diese Menſchen, die bis dahin als Feinde gelebt hatten.
Renaud wohnte dem Mahl ein wenig gleichgültig bei;
er wurde ſozusagen beiſeite geſchoben durch die Ränte,
welche Helene und der jetzt ſehr elegant auftretende
Savinien spannen, und deren Anfang in seiner Gegen-
wart gemacht worden war.

In Landepereuſe war man dagegen über die Ver-
ſöhnung aufrichtig erfreut. Julie hatte sich von ihrem
Unfall gänzlich erholt, und Margarete ſtrahlte förmlich



vor Freude, ſo daß ihr Vater ſie unwillkürlich fragen.

„Noch nie habe ich dich in so roſiger Stimmung ge-
ſehen. Was haſt du denn nur?"

„Ich weiß es ſelbſt nicht, Papa, und kann dir nur
sagen, daß ich noch niemals ſo glücklich war wie heute!"

Ben du nur glücklich biſt + mehr verlange ich
ja nicht.“

Als man die Tafel aufhob, gelang es Helene, für
einen Moment an die Seite ihres Vetters zu gelangen
und ihm ins Ohr zu flüstern: „Nun befindeſt du dich
in der Festung !“

„Das ist wahr, und du kannst überzeugt ſein, daß
ich nicht vom Platze weichen werde.“ :

Er war plötzlich verſtummt und zuſammengezuckt,
denn er hatte Georg Gordon erblickt, der gleichfalls zu
dem Verſöhnungsmahl zugezogen worden war, und,
unmittelbar neben ihm stehend, die leiſe geflüſterten
Worte vernehmen konnte. Die beiden Männer wechselten
einen blitzſchnellen Blick; doch ließ bei dem Amerikaner
nichts darauf schließen, als hätte er die Worte that-
ſächlich vernommen, und Savinien war nicht der Mann
dazu, um sich lange mit unnützen Gedanken zu befaſsen.

Man begab sich in den Garten, um ſich in der

köstlich milden Luft etwas zu ergehen, und mit einem-
mal stand Renaud vor Margarete. Er hatte ſie nicht
geſucht, und nur der Zufall dieſe Begegnung herbei-
geführt. Die junge Dame ſchien in Verlegenheit zu

geraten und war im Begriffe, vorüberzugehen, ohne P

seine Ansprache abzuwarten, als er dies mit einem
Worte verhinderte.
„Mein gnädiges Fräulein,“ begann er, ,wie tief
bewegt bin ich von dem, was Sie für mich gethan."
„Ich verstehe Sie nicht !“ erwiderte sie tief erbleichend.
„Doktor Gordon hat das Geheimnis, in das Sie
Ihre Güte und Hochherzigkeit gehüllt haben, nicht ver-
raten, denn er war durch sein Wort gebunden; ich
aber – ich weiß alles und danke Ihnen herzlichſt,
gnädiges Fräulein. “
Er machte eine tiefe Verbeugung und ging.
Bringuetaille war ganz glücklich, daß er in Savinien
einen Jagdgenoſſen gefunden, der ein ebenso tüchtiger
Schütze und unermüdlicher Jäger war wie er ſelbſt,
und er lud ihn häufig ein, nach Landepereuſe zu kom-
men, wo Savinien bald täglicher Gaſt wurde. Er ſuchte
sich auch Richardier zu wiederholtenmalen nütlich zu
machen, indem er ihm verſchiedene Ratschläge in Bezug

auf Forſt- und Bodenkultur erteilte, die den Veweis

lieferten, daß er in dieſen Dingen Bescheid wiſſe, und
der Schloßherr von Landepereuſe hatte diese Ratſchläge
aug, veieut .. erwies er ſich als heiterer, zuvorkom-

"mender Geſsellſchafter, der stets rechtzeitig verſchwand,

noch bevor man seine Gegenwart läſtig fand, ſo daß
dieſe immer wünſchenswert erschien. Sein beſcheidenes
Auftreten, welches sich auch in seinen Gesprächen kund-
gab, mit denen er niemals blenden wollte, ſeine fesselnde
Unterhaltung, zu der zumeist seine zahlreichen aus-
edehnten Reiſen den Stoff lieferten, gewann ihm in
urzer zeit die Sympathie der Personen, mit denen
er verkehrte.

y? Herz war freilich viel zu kalt, als daß es-
wirklicher Liebe zugänglich gewesen wäre, viel zu egoi-
stiſch und zu gefühllos, als daß es Mitleid oder Er-
barmen hätte empfinden können. Er hatte ſich indeſſen

seine Heirat mit der Tochter des reichen Unternehmers
| zum Ziel gesteckt und diesem Ziele strebte er unentwegt

zu. Um die reiche Mitgift und ſpäter ein fürstliches
Erbe zu erlangen, war dieſer Mann, der weder Treue
und Glauben, noch Bedenken irgend welcher Art kannte,
zu allem bereit.

Er war zu klug, und der auf dem Spiele stehende
Einsat zu groß, als daß er gesonnen gewesen wäre,

nach einmonatlichem Verkehr in Landepereuſe bereits.

mit einer Liebeserklärung hervorzutreten. Er mußte
Uzzztf tie Role et wU§eumeu o pte!
blicken läßt, pe bewirkte f daß Rithacvior selbst
ihn mehrmals bei ſeinem Vetter in Beuvron aufſuchte,
um sich nach dem Grunde ſeines langen Fernbleibens
zu erkundigen.

Er begann eine traurige, nachdenkliche Miene zur

Schau zu tragen. Wiederholt hatten ihn Margarte.

und Julie, wenn sie miteinander Spaziergänge unter-
nahmen, hinter einem Baumstamm oder einem Ge-
büſch erspäht, wo er geiſtesabweſend vor ſsich nieder-
starrte, und er hatte so sehr in ſeine Gedanken ver-
tet !ſ§ieset. daß er die beiden Mädchen gar nicht
wahrnahm.

Dieſes Gebahren währte den Reſt des Sommers
bis in den Herbst hinein. .

Dann trug ſich etwas zu, was Savinien mit zu-
verſichtlicher Hoffnung erfüllte und ihn veranlaßte, ſeine
Werbung, die er ſchon ſeit ſo langer Zeit vorbereitete, zu
beschleunigen. Im Verlauf von einigen Wochen traten
nämlich zwei Bewerber auf, zwei sehr reiche junge
Männer aus den beſten Kreiſen, die um die Hand
Margaretens anhielten, aber beide wurden abgewiesen.
 
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