504 Da s Buch für Alle. Heft 21.
kommen, Frau Mama," sagte sie „Wo ist Herrade?“ fragte endlich Herr v. Möngis.
und hielt ihr die Hände zum Gruß „Ich ~ ich weiß nicht,“ antwortete seine Frau.
entgegen. Frau Juliane reichte ihr | „Vielleicht auf ihrem Zimmer. Ich habe sie den ganzen
die Hand, erwiderte aber nichts. Sie | Nachmittag noch nicht gesehen.“
ſah sich um, verwundert und erwar- Ihr Gatte ſah sie vorwurfsvoll an. Dann ging er
tungsvoll. Wo war Herrade? fragte | mit haſtigen Schritten nach dem Hause, um sie zu ſuchen.
sie sich im stillen. Kam ſie nicht, „HBleib hier," rief ihm ſeine Mutter zu, „,ich ſelbſt
um ihre Groß- | will sie auffuchen.“
mutter zu em- Damit ging sie dem Hauſe zu und stieg die Treppe
pfangen? Frau | langſam, aber für ihr Älter doch raſch genug empor.
Juliane wußte, | Nur Lotte kam ſchüchtern und neugierig hinter ihr her.
daß sie ihr am Frau Juliane schritt direkt auf Herradens Zimmer
willklommenſten | los, das sie indeſſen leer fand. Sie ſah sich flüchtig
war. um. Ohne Zweifel war Herrade noch kurz zuvor hier
gewesen. Man sah das an verschiedenen Kleinig-
keiten, für die Frau Juliane ein ſcharfes Auge
hatte. Auf einem Tiſchchen neben dem Sofa stand
Ein Fleſhe Bahex ncht zu jelirollen Glete:
ob sie eben darin gelesen hätte. Das war aber
kein Roman oder sonst irgend welche Unterhal-
tungslektüre für junge Damen. Juliane ſah das
ſofort und nahm es deshalb zur Hand, um den
. § Titel zu leſen. Es war dos deutſche Staof-
§ geſet buch. Die alte Frau hätte es vor Schreck
. faſt fallen laſſen. Seit wann interessierte ſich
> Herrade für solche Sacha?”
. Eine plötzliche Angst überfiel Frau Juliane. Sie
ging raſch zum Zimmer hinaus, als sie plötzlich auf
dem Korridor, der etwas dunkel lag, vor Herrade stand.
Auch Herrade ,
chien bei dem
so unvermute-
ten Zuſammen-
Nun lag der große, starke Mann, dem ſchon das
Haar anfing bleich zu werden, ebenfalls ſchluchzend vor
seiner Mutter, und barg das ſsorgenvolle, geängſtete
Gesicht in ihrem Schoß, genau wie Herrade vor einigen
Monaten, als sie die ahnungsvolle Furcht vor Rein-
holds Zukunft zu Boden geworfen. . I
Haſtig erhob sich Frau Juliane. „Komm, Siegfried. |
Steh auf,“ sprach ſie aufgeregt, „wir müssen nach Her- mÌm.I…èlſhl]bp Il MI
rade sehen. Das arme Kind. Komm raſch. Könnte ' (I). MI
sie wirklich im krankhaften Zucken ihrer Seele auf Ge-
danken kommen, die uns alle unglücklich machen? Mein
Gott, wenn ich daran denke – komm. JIhr ſeid ſchuld
an allem mit eurer albernen Eitelkeit, die den unseligen
Grafen einen solchen Einfluß in deinem Hauſe gewinnen
ließ. q? muß nun euer armes Kind büßen!"
„Mutter –~"
„Still. Ich mache dir keine Vorwürfe. Wohl dir,
wenn du ſie nicht ſelbſt dir machen mußt. Komm." ~
Wenige Minuten später ſaßen Mutter und Sohn
zuſammen im Wagen, der sie im ſchnellſten Trab nach
der Villa Möngis brachte. Als sie vor dem Garten-
thor hielten, ſprang Lotte, die wohl im Garten geseſſen
hatte, herzu, um der alten Dame beim Aussteigen be-
hilflich zu ſein.
Der Winter fährt zur Stadt hinaus.
treffen zu erschrecken. Ein Zittern überfiel sie. Sie taſtete mit der
rechten Hand nach einem Schrank, der da zufällig in ihrem Bereich
stand, um ſich daran festzuhalten.
„Wo warst du, Herrade?“ fragte die
alte Dame leiſe, indem sie ihre Enkelin
aufmerksam betrachtete.
„In - in der Küche," hauchte dieſe.
„Was haſt du da in der Hand ?"
. fragte Juliane weiter, weil sie bemerkte,
daß Herrade in ihrer Rechten etwas trug,
was sie offenbar verbergen wollte.
„Nichts, Großmutter, nichts," ant-
wortete ſie raſch, aber so ſchwach und hin-
fällig, daß man glauben konnte, sie müsse
jeden Augenblick vor Schwäche umfallen.
„Laß sehen, laß ſehen,“ ſprach die
Großmutter und verſuchte die Hand zu
öffnen. Herrade war so matt, daß ſie
faſt gar keinen Widerstand zu leiſten ver-
mochte. Als sich die feine zartweiße Hand
öffnete, lagen einige zwanzig oder dreißig
Streichhölzer darin, und zwar keine ſchwe-
diſchen oder Wachszündhölzer, sondern
solche mit roten Phosphorköpfen.
„Herrade!“ entfuhr es faſt widerwillig
der alten Frau. „Was wollteſt du damit ?"
„Ich — ich wollte eine Kerze anzün-
den, um zu siegeln,“ antwortete sie mit
gesenkten Augen.
Mit einem scharfen, durchdringenden
, Blick beobachtete Frau Julianeihre Enkelin
einen Moment. Dann ſchlang sie raſch und hastig die Arme um
sie und murmelte innig: „Mein armes, armes Kind!"
„Die Groß-
mama !“ rief ſie laut
und jubelnd. „End-
lich 'mal wieder die
Großmamal!“
Auf das Geſchrei
hin trat auch gleich
darauf die Frau
Kommerzienrat aus
dem Hauſe heraus.
Etwas gedrückt und
verlegen näherte ſie
ſich ihrer Schwieger- Herrade ſchluchzte leiſe in den Armen ihrer Großmutter.
mutter. , “ LdLotte stand dabei und horchte gespannt. Jhre Augen funkelten
„Tauſendmalwill- vor Neugier, und doch verstand ſie nichts von dem Vorgang,
z-Sommergewinn'“ in Eiſenach. Originalzeichnungen von F. Holb ein. (S. 499)
kommen, Frau Mama," sagte sie „Wo ist Herrade?“ fragte endlich Herr v. Möngis.
und hielt ihr die Hände zum Gruß „Ich ~ ich weiß nicht,“ antwortete seine Frau.
entgegen. Frau Juliane reichte ihr | „Vielleicht auf ihrem Zimmer. Ich habe sie den ganzen
die Hand, erwiderte aber nichts. Sie | Nachmittag noch nicht gesehen.“
ſah sich um, verwundert und erwar- Ihr Gatte ſah sie vorwurfsvoll an. Dann ging er
tungsvoll. Wo war Herrade? fragte | mit haſtigen Schritten nach dem Hause, um sie zu ſuchen.
sie sich im stillen. Kam ſie nicht, „HBleib hier," rief ihm ſeine Mutter zu, „,ich ſelbſt
um ihre Groß- | will sie auffuchen.“
mutter zu em- Damit ging sie dem Hauſe zu und stieg die Treppe
pfangen? Frau | langſam, aber für ihr Älter doch raſch genug empor.
Juliane wußte, | Nur Lotte kam ſchüchtern und neugierig hinter ihr her.
daß sie ihr am Frau Juliane schritt direkt auf Herradens Zimmer
willklommenſten | los, das sie indeſſen leer fand. Sie ſah sich flüchtig
war. um. Ohne Zweifel war Herrade noch kurz zuvor hier
gewesen. Man sah das an verschiedenen Kleinig-
keiten, für die Frau Juliane ein ſcharfes Auge
hatte. Auf einem Tiſchchen neben dem Sofa stand
Ein Fleſhe Bahex ncht zu jelirollen Glete:
ob sie eben darin gelesen hätte. Das war aber
kein Roman oder sonst irgend welche Unterhal-
tungslektüre für junge Damen. Juliane ſah das
ſofort und nahm es deshalb zur Hand, um den
. § Titel zu leſen. Es war dos deutſche Staof-
§ geſet buch. Die alte Frau hätte es vor Schreck
. faſt fallen laſſen. Seit wann interessierte ſich
> Herrade für solche Sacha?”
. Eine plötzliche Angst überfiel Frau Juliane. Sie
ging raſch zum Zimmer hinaus, als sie plötzlich auf
dem Korridor, der etwas dunkel lag, vor Herrade stand.
Auch Herrade ,
chien bei dem
so unvermute-
ten Zuſammen-
Nun lag der große, starke Mann, dem ſchon das
Haar anfing bleich zu werden, ebenfalls ſchluchzend vor
seiner Mutter, und barg das ſsorgenvolle, geängſtete
Gesicht in ihrem Schoß, genau wie Herrade vor einigen
Monaten, als sie die ahnungsvolle Furcht vor Rein-
holds Zukunft zu Boden geworfen. . I
Haſtig erhob sich Frau Juliane. „Komm, Siegfried. |
Steh auf,“ sprach ſie aufgeregt, „wir müssen nach Her- mÌm.I…èlſhl]bp Il MI
rade sehen. Das arme Kind. Komm raſch. Könnte ' (I). MI
sie wirklich im krankhaften Zucken ihrer Seele auf Ge-
danken kommen, die uns alle unglücklich machen? Mein
Gott, wenn ich daran denke – komm. JIhr ſeid ſchuld
an allem mit eurer albernen Eitelkeit, die den unseligen
Grafen einen solchen Einfluß in deinem Hauſe gewinnen
ließ. q? muß nun euer armes Kind büßen!"
„Mutter –~"
„Still. Ich mache dir keine Vorwürfe. Wohl dir,
wenn du ſie nicht ſelbſt dir machen mußt. Komm." ~
Wenige Minuten später ſaßen Mutter und Sohn
zuſammen im Wagen, der sie im ſchnellſten Trab nach
der Villa Möngis brachte. Als sie vor dem Garten-
thor hielten, ſprang Lotte, die wohl im Garten geseſſen
hatte, herzu, um der alten Dame beim Aussteigen be-
hilflich zu ſein.
Der Winter fährt zur Stadt hinaus.
treffen zu erschrecken. Ein Zittern überfiel sie. Sie taſtete mit der
rechten Hand nach einem Schrank, der da zufällig in ihrem Bereich
stand, um ſich daran festzuhalten.
„Wo warst du, Herrade?“ fragte die
alte Dame leiſe, indem sie ihre Enkelin
aufmerksam betrachtete.
„In - in der Küche," hauchte dieſe.
„Was haſt du da in der Hand ?"
. fragte Juliane weiter, weil sie bemerkte,
daß Herrade in ihrer Rechten etwas trug,
was sie offenbar verbergen wollte.
„Nichts, Großmutter, nichts," ant-
wortete ſie raſch, aber so ſchwach und hin-
fällig, daß man glauben konnte, sie müsse
jeden Augenblick vor Schwäche umfallen.
„Laß sehen, laß ſehen,“ ſprach die
Großmutter und verſuchte die Hand zu
öffnen. Herrade war so matt, daß ſie
faſt gar keinen Widerstand zu leiſten ver-
mochte. Als sich die feine zartweiße Hand
öffnete, lagen einige zwanzig oder dreißig
Streichhölzer darin, und zwar keine ſchwe-
diſchen oder Wachszündhölzer, sondern
solche mit roten Phosphorköpfen.
„Herrade!“ entfuhr es faſt widerwillig
der alten Frau. „Was wollteſt du damit ?"
„Ich — ich wollte eine Kerze anzün-
den, um zu siegeln,“ antwortete sie mit
gesenkten Augen.
Mit einem scharfen, durchdringenden
, Blick beobachtete Frau Julianeihre Enkelin
einen Moment. Dann ſchlang sie raſch und hastig die Arme um
sie und murmelte innig: „Mein armes, armes Kind!"
„Die Groß-
mama !“ rief ſie laut
und jubelnd. „End-
lich 'mal wieder die
Großmamal!“
Auf das Geſchrei
hin trat auch gleich
darauf die Frau
Kommerzienrat aus
dem Hauſe heraus.
Etwas gedrückt und
verlegen näherte ſie
ſich ihrer Schwieger- Herrade ſchluchzte leiſe in den Armen ihrer Großmutter.
mutter. , “ LdLotte stand dabei und horchte gespannt. Jhre Augen funkelten
„Tauſendmalwill- vor Neugier, und doch verstand ſie nichts von dem Vorgang,
z-Sommergewinn'“ in Eiſenach. Originalzeichnungen von F. Holb ein. (S. 499)