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014

sagenden Zärtlichkeit, mit der sie ihn umgeben, hatte
er ſie verlaſſen, war er von ihr gegangen. Nein, das
würde ſie nicht überleben! ; ;
Inmitten des allgemeinen Aufruhrs behielt Martial
seine Besonnenheit; er bat seinen Ontel Bringuetaille,
nach Rouches zu ſprengen und Gordon herbeizuholen.
Welche Hoſſnung mochte ihn wohl beſeelen? Renaud
war – wie er wußte – Ohnmachtsanfällen unter-
worfen; vielleicht handelte es sich auch jetzt nur um
U ſ1ſt vée Pu r uus uu.
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M Ou e tollſten En als etwas natür-
liches, wofern sie nur einige Hoffnung in uns erwecken.
Und dann fügte er hinzu: „Bitte, Onkel, ſprich doch
auch in Beuvron vor und melde auch Savinien den
Tod seines Vetters.“ ; |
Wenige Minuten ſpäter ſprengte Bringuetaille auf
dem nach Rouches führenden Wege dahin. Die all-
gemeine Bewegung war Savinien auf seinem Beobach-
tungsposten nicht entgangen; doch wagte er ihn nicht zu
verlaſſen, die ihn vor jedem neugierigen Blicke ſchützende
Thür nicht zu öffnen. Das Ohr an ſie gepreßt, ver-
uchte er zu lauſchen, wenn möglich einige Worte zu
erhaſchen.
hzih war ihm im übrigen ein Leichtes, den Zuſam-
menhang zu erraten. Helene hatte entdeckt, daß ihr
Bruder nicht mehr atme, hatte um Hilfe gerufen, und
gewiß war man vor allem nach Rouches geeilt. Dieſe
Wahrſcheinlichkeit flößte ihm keinen Schrecken ein, denn
was hatte er von Gordon zu fürchten, ſelbſt wenn
dieser Verdacht gegen ihn hegtes Der Abenteurer
war bei der beiſpielloſen Kühnheit, mit welcher er zu
Werke gegangen, vom Zufall so über alle Erwartung
hezunſtigt worden, daß es unmöglich war, ihn zu be-
uldigen.
[h (ue eine Stunde, nachdem Bringuetaille das Schloß
verlaſſen, langte Gordon, von Noéël begleitet, an; der
erstere ſelbſt war, der Bitte seines Neffen entsprechend,
auf dem Rückwege von Rouches nach Beuvron zu Sa-
hihitr v. Albernon geritten und noch nicht zurückge-
ehrt. '
heim Bette Renauds stehend, konnte der Arzt bloß
Den eingetretenen Tod konſtatieren. Nein, das war
keine Ohnmacht; hier gab es keine Hoffnung mehr.
_ Die Anwesenden ſchluchzten laut; nur Helene weinte
nicht. Sie hatte nicht mehr die Kraft dazu.
Sinnend stand der Arzt da und trachtete ſich all
die Beobachtungen zu vergegenwärtigen, die er in den
letten Tagen gemacht. Er hatte Renaud gesehen, als
er hart am Rande des Grabes gestanden; dann hatte
er ihn durch Aufbietung ſeines ganzen ärztlichen Kön-
nens gerettet, und seit zwei Tagen konnte er ſogar
verſichern, daß der Graf die Kriſe nicht nur überstehen,
sondern ſich ziemlich wieder erholen werde. Und mit

î einemmal war ſein Patient geſtorben. Er war dar-

über in höchſtem Grade erſtaunt und nahm es ſich so sehr
zu Herzen, als hätte er ſelbſt die Schuld daran getragen.

„Um wieviel Uhr entdeckte man den Tod des
Grafen?“ fragte er.

„Gegen Mitternacht.“ ;

zu wachte um dieſe Zeit bei ihm?“

„Helene. “ : :

Geordon, deſſen Miene ſtreng und ernst geworden,
î wendete sich jezt mit den Worten zu dem jungen Mäd-
cen: „Bitte, mein Fräulein, berichten Sie mir ein-
gehend alles, was sich zugetragen hat."

„Mein Bruder lag in tiefem, friedlichem Schlum-
mer da, als ich gleich nach dem Speisen mit Mar-
garete in sein Zimmer kam. Meine Schwägerin blieb
aber nur wenige Minuten, da sie von den letzten Nacht-
. wachen sehr erſchöpft war, und darum riet ich ihr, zu
Bett zu gehen. Sie kam meinem Rat nach, und
wenige Minuten darauf fand sich Herr Noël Labarthe
ein, der mir Geſsellſchaft leiſten wollte. Da ich fürchtete,
unseren Kranken durch unſer, wenn auch gedämpftes
Geſpräch zu wecken, so ging ich mit Herrn Labarthe

_ in den Korridor hinaus, wobei ich die Thür aber halb

offen stehen ließ, um jedes Geräuſch zu vernehmen,
wenn Renaud erwachen und etwas benötigen ſollte.“
„Ich kann nur bestätigen, “ fügte der junge Offizier

hinzu, „daß Renaud um diese Zeit friedlich ſchlum-

merte. Fräulein v. Albernon trat faſt jede Minute
an die offene Thür und steckte den Kopf hinein, um
ſich davon zu überzeugen.“

„Unt het ſich nichts Ungewöhnliches ereignet?"

„Gar nichts."

„Ich vermag mir die Sache nicht zu erklären,“ be-
merkte Gordon und fügte hinzu: „Um wieviel Uhr
haſt du Landepereuſe verlassen?“
. „Gegen elf uhr.!

„Und was geſchah, mein Fräulein, als Sie zu
Ihrem Bruder zurückkehrten?“

„Ich dachte, daß er noch ſchlafe. Er hatte ſeine
Lage im Bette geändert und den Kopf nach links, zur
Wand gewendet, ſo daß ich ſein Geſicht nicht sehen
konnte, während ich es vor wenigen Minuten noch vom
Korridor aus deutlich unterſcheiden konnte, wie er, fried-
lich daliegend, regelmäßig atmete."



Da s Buch. für Alle.

„Sie glauben alſo, daß Ihr Bruder, als Sie in
das Zimmer zurückkehrten

„Schon tot war, denn wie wäre es mir entgangen,
wenn während der darauf folgenden Stunde ſich der
Todeskampf eingeſtellt hätte? Konnte er ſich volllommen
lautlos vollziehen ?"

„Betrat niemand außer Ihnen, Margarete und
Noël dieses Zimmer von dem Moment an, da Sie

nach dem Speisen hierherkamen, bis zu dem Augen-

blick, da Sie entdeckten, daß alles zu Ende ſei ?"

"Use *ietiath: bestimmt?"

„Ich kann es beſchwören.“ ;

Inzwischen war Vringuetaille angelangt und be-
richtete: „Ich habe Herrn Savinien v. Albernon da-
heim nicht angetroffen, aber die Weiſung zurückgelaſſen,
E us w
Hauſe gekommen.“ !

Niemand machte eine Bemerkung bei diesen Worten;
Helene und Gordon aber waren bei dem Bericht
Bringuetailles zuſammengefahren. Sie hoben die Köpfe
empor, und instinktiv begegneten sich ihre Blicke, als
wäre ihnen der gleiche Gedanke gekommen, der zwar
unbeſtimmt und unklar, sich aber troßdem zu regen
begann. Darauf ließen beide wieder den Blick ſinken.
Savinien hatte die Nacht außer dem Hauſe verbracht.
Wo war er geweſen, wohin gegangen, nachdem er
Landepereuſe verlaſſen ?

Gordon trat wieder an das Bett. Als er gekommen
war, hatte er ſich begnügt, ven Tod festzustellen, ohne
sich Zeit zu nehmen, den Körper näher zu unterſquchen.
Dieſe Unterſuchung nahm er jetzt vor, und seine Ueber-
zeugung war alsbald gefaßt.

Die verzerrten Züge, das aufgedunsene Gesicht, die
blutunterlaufenen Augen, der namenloſes Entſetzen ver-
ratende Ausdruck des Gesichtes – deuteten all diese
Anzeichen nicht darauf hin, daß man vor einem Ver-
brechen stehe? Die leichten Blutſpuren an den Lippen
verrieten auch gewaltsamen Blutandrang gegen das
Gehirn. Der Doktor öffnete den Kragen des Hemdes,
konnte aber trotß eingehender Unterſuchung keine Spur
von Würgungsverſuchen am Halse entdecken.

Einen Moment dachte er an Gift; aber auch nur
einen Moment, denn um zu dieſem Reſultat zu ge-
langen, hätte es eines äußerſt heftigen, bliyſchnell
wirkenden Giftes bedurſft, welches dem Kranken weder
die Zeit noch die Kraft ließ, auch nur einen Schrei
auszuſtoßen. Und wesſen Hand hätte ihm dieses Gift
beibringen ſollen? Die der Schwester vielleicht? War
das überhaupt denkbar? Es widerſtrebte ihm, eine
solche Beschuldigung zu erheben; auch ſchien der Schmerz
Helenens so wahr und- ungekünſtelt zu ſein, daß er
den Gedanken von sich wies. Und deſsſenungeachtet
sprach dieses Gesicht unverkennbar dafür, daß hier ein
Verbrechen begangen war.

Plötzlich bemerkte der Arzt, daß der Kopf Renauds,
statt auf dem Kissen zu ruhen, auf den Bettpfühl ge-
glitten war. Er hob das Kiſſen auf und drehte und
wendete es aufmerksam nach allen Richtungen, bis ſein

| Blick mit einemmal auf kleinen roten Flecken haften

blieb, die ſich deutlich von dem weißen Leinen ab-
hoben. Das iſt Blut! Und iſt es nicht dasselbe Blut,
welches um die Lippen herum zu sehen iſt? Und mit
einemmal erwacht der Gedanke in ihm: „Der Unglück-
liche iſt mit diesem Kissen erſtickt worden."“ Der Ver-
dacht wird alsbald zur Gewißheit, und ein Schauer
durchrieſelt den Arzt.

Er trat von dem Bette zurück, verließ das Zimmer
und schritt in fieberhasſter Erregung im Korridor auf
und nieder. Dann öffnete er das Fenster und lehnte
sich gegen das Kreuz, die brennenden Augen und Stirne
der kühlen Nachtluft preisgebenn. Ein sehr hoher
Wandſchirm, der vor dem Fenſter stand, entzog ihn
dabei den Blicken der Personen, die durch den Korri-
dor kommen konnten, und da die Lampen nieder-
geſchraubt waren, so herrſchte faſt vollſtändige Duntel-
heit; im Freien aber konnte man über den Bäumen
het das Dämmern des anbrechenden Tages wahr-
nehmen.

Da vernahm er mit einemmal das Geräuſch von
Schritten über seinem Haupte, die ein leiſes Krachen
des Fußbodens verursachten. Jemand ging im oberen
Stockwerk vorsichtig hin und her. Anfänglich achtete
Gordon nicht darauf, denn er ſchrieb der Sache keiner-
lei Bedeutung bei, und erſt als der Fußboden ein
zweites Mal krachte, wurde er darauf aufmerkſam. Er
war mit dem ganzen Hausweſen auf Schloß Lande-
pereuse zu sehr vertraut, um nicht zu wiſſen, daß das
zweite Stockwerk nicht bewohnt sei. Aber was focht
ihn denn die Sache an? Konnten gnicht Dienſstboten

oben beschäftigt sein? Und damit kehrte er zu ſeinen

Gedanken zurück.
Savinien hatte inzwiſchen überlegt, daß, wenn der

. Tod seines Vetters entdeckt wurde –~ und das ,war

jetzt bereits geschehen ~ man gewiß auch zu ihm nach
Beuvron ſchicken werde, um ihn von der Kataſtrophe

! in Kenntnis zu seßen. Zweifellos hatte sich ſchon je-



Heft 26.

mand zu ihm begebén, der dann die Kunde zurück-
bringen würde, er ſei ſeit geſtern noch gar nicht zu
Hauſe geweſen. Und wenn ſich einiger Verdacht, zu-
mal in dem Geiſte des Doltors, gegen ihn regen ſollte,
so würde man für dieſe Abwesenheit keine Erklärung
finden und er selbſt nur mit großer Mühe eine un-
verdächtige erſinnen können.

Er sah sich da von einer noch nicht deutlich erkenn-
baren Gefahr bedroht, die ſo ſchnell als möglich be-
seitigt werden mußte, wenn es noch Zeit war. Er
hatte vor der Ausführung seines Verbrechens an alles
zu denken geglaubt, hatte alle Einzelheiten genau er-
wogen und sich die Folgen seiner That vergegenwär-
tigt, all dies mit einer seltenen Geiſtestlarheit, mit
qrsteti Scharfsinn, und gerade dieſer Punkt war ihm
entgangen.

Damit seine andauernde Abweſenheit nicht gar zu
auffallend erſchiene, wollte er nun das Schloß ſofort
verlaſſen und nach Hauſe eilen; in der allgemeinen
Verwirrung erſchien ihm das ein Leichtes, und das
war es auch in der That. Er brauchte eigentlich gar
nicht zu gehen; es genügte ja, wenn er die Treppe
hinabſtieg, durch den Korridor ſchritt und in das
Zimmer des Toten trat mit der Angabe, er hätte ſoeben
tf bie Nachricht von dem Hinſcheiden ſeines Vetters
erhalten.

Er begann also die Treppe hinabzuſteigen, auf der
noch ein graues Zwielicht herrſchte, und blieb erſt ſtehen,

| als er bei der Krümmung der Treppe angelangt wa,,

wo man ihn vom Korridor aus hätte erblicken können.
Dieser fas leer, ſo weit er ihn überblicken konnte.
Fer t ſ q veztct fs hte sst ne re
die im Hintergrunde des Korridors noch brennenden
Lampen zum Flackern bringt. Oben auf der Treppe
stehend, läßt er sein Auge über die ſpaniſche Wand
hinweggleiten und da sieht er einen Mann an dem
szres eule tehes. die Rene tue ver \hutvat!!
V
j ſtädt. Und dieser Mann, er erkennt ihn, iſt Fter) Ö
ordon.

Eine bange Minute des Zögerns, der Unentſchloſſen-
heit verſtreicht. Soll er wieder hinaufgehen oder ſeinen
Weg fortſetzen?

Gordon hat das Fenſter plöglich geſchloſſen und iſt
im Begriffe, ſich umzuwenden.

Wieder wollte es der Verbrecher mit ſeiner gewohnten
Kühnheit verſuchen. Mit einem Say hat er die letzten
Treppenstufen überſprungen, und ſchon iſt er im Kor-
ridor unten vor dem Sterbegemach angelangt, als ſich
Gordon umwendet und ihn erblickt. Savinien bleibt
keine Zeit, in dieses Zimmer, den Schauplayz ſeines
hr ahbe n tu ujw ht r!

„Sie werden hier nicht t cod herrſcht er ihn
an, „bevor Sie mir eine Frage beantwortet haben.“

„Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Sie
ſprechen in einem Tone mit mir, ver mir durchaus
tt. e. Ur t e eU
ſchaftliche Pflicht und meine Liebe für den Dahin-
geschiedenen rufen.“

Diese Worte waren mit leiſer Stimme gesprochen
worden. Sarvinien dämpfte vorsichtig die Stimme, als
hätte er kein Aufsehen erregen und jeglichen Skandal
vermeiden wollen.

In unbeschreiblicher Erregung erwidert Gordon:
„Sie wußten nicht, daß ich hier sei und ich ertappte
Sie, als Sie die zum zweiten Stock emporführende
Treppe herabſtiegen. Was hatten Sie dort zu ſuchen?
Gewiß haben Sie dort die Nacht verbracht. Ü

Saviniens Gesicht verriet nichts von der Erregung
seines Innern, als er zur Antwort gab: „Sie ſind
wohl von Sinnen? Weshalb hätte ich die Nacht hier
verbringen sollen? Ich fordere Sie zum letztenmal auf,
mir den Weg freizugeben.

„Vorerſt beantworten Sie mir eine Frage.“
hs. Sie. Dem Wahnsinn iſt alles zu ver-
eihen. “

j „Woher wissen Sie, daß Renaud tot iſt?"

Savinien blieb die Antwort schuldig. Er faßte
Gordon einfach am Arm, ſchob ihn zur Seite und trat
in das Sterbegemach.

„Und trotßdem werde ich die Wahrheit erfahren,
koſte es, was es wolle,“ sprach der Arzt leiſe vor ſich
hin und begann die Treppe hinabzuſteigen.

“ In der Vorhalle unten standen in der Nähe der
Eingangsthür einige Diener und ſprachen mit betrübter
Miene über den Tod ihres Gebieters. Gordon trat zu
ihnen und redete sie an: „Seit wann ſeid ihr hier?
Es iſt tot besonderer Wichtigkeit für mich, das genau
u erfahren. "

h „Nun, Herr Doktor,“ sagte einer der Diener, „es
mag so eine Viertelſtunde her ſein.“

„Und wie viele Personen kamen während dieser
Viertelſtunde in das Schloß?“ Und. di

nd die

„Keine einzige, Herr Doltor!“ Leute

blickten einander erſtaunt an.
 
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