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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 4
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https://doi.org/10.11588/diglit.44085#0096
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88

Das Buch für Alle.

storbenen Vaters Rechtsbeistand und Familienfreunde
die Freitreppe zur großen Halle hinunter und in
sein Arbeitszimmer.
Um einen Rauchtisch reihteu sich bequeme Sessel.
„Haben Sie die Güte, sich zu bedienen; Zigarre
oder Zigarette? Ich halte es, wie Sie wissen, mit
letzterer. Er nahm dem Justizrat gegenüber Platz,
lehnte das Haupt zurück und wartete der Dinge,
die da kommen sollten.
Der Raum, vielleicht etwas zu orientalisch-syba-
ritisch ausgestattet sür ein Herrenzimmer, bewahrte
dennoch, dank seiner geschmackvollen Zusammen-
stellung, den Eindruck wohnlichster Pracht. Zumal
jetzt, nach dem Festtrubel droben, wirkten sein mildes
Deckenlicht und seine gesättigten Farbentöne zu der
herrschenden Stille erquickend und harmonisch.
Graf Maximilian hielt die Augen halb geschlossen
während der geschäftlichen Eröffnungen, welche
Geisler ihm machte. Anscheinend teilnahmlos, folgte
er gleichwohl jedem Worte mit regster Aufmerksam-
keit. Kein Gedankenflug streifte das junge Weib,
welches er mitleidlos der herbsten Enttäuschung
überließ.
„Mit allem einverstanden, lieber Justizrat! Voll-
kommen!"
Geisler verneigte sich leicht. „Wenn Sie mir nun
noch gestatten wollen, Herr Graf, mich für die gütige
Aufnahme meines Neffen zu bedanken —"
„Bitte sehr!" Trachberg entzündete eine zweite
Zigarette, während er zu sprechen fortfuhr. „Sagen
Sic mal, Ihr Neffe — Mediziner ist er ja —
scheint ein gewandter, intelligenter Mann zu sein.
Hat er die Absicht, sich hier niederzulassen?"
„Nein, er hat andere Pläne, sehr hohe natürlich!"
lächelte Geisler. „Er befindet sich auf dem Wege
der Erfindung irgend eines weltbeglückenden Heil-
mittels. Indessen zolle ich gerade diesem Neffen be-
sondere Achtung."
„So. Weshalb?"
„Weil er sich, meine Unterstützung abgerechnet,
von Jugend auf energisch durchs Leben geschlagen
hat. Früh vaterlos geworden, hat er von der kleinen
Pension seiner Mutter niemals einen Pfennig an-
genommen. Er war fleißig über alle Maßen, gab
Unterricht, entbehrte —"
„Wirklich!" sagte der Graf unaufmerksam. Sein
Interesse an der ringenden Menschheit wie seine Wert-
schätzung der Ringenden waren gleich gering. Wo
hätten diese der erlesenen Minderheit nicht keuchend
im Wege gestanden?
„Ja," fuhr der Justizrat wärmer fort, „er ist
des Lobes wert. Nach einem vortrefflichen Examen
wurde er Assistenzarzt und hat nebenher schon eine
hübsche kleine Praxis."
„Also Zukunftsträume hegt er!" sagte Trachberg
leicht ironisch. „Freilich, auf ihren bunten Träumen
klettert die Menschheit aus ihres Daseins Tiefe. Ich
möchte in der That wissen, was das für Dinge sind,
Träume, die dem Hungernden Speisendnst, dem Dach-
stubenpoeten Schloß und Lorbeerkrone, dem jungen
Arzte Lehrstuhl und Weltrnhm vorzugaukeln ver-
mögen. Ich gestehe darin bereitwillig meine völlige
Unkenntnis ein."
„Sollte nicht doch schon einmal ein kleines ideales
Träumchen von —" Der Justizrat streifte die Asche
seiner Zigarre leicht ab. „Herr Graf erraten viel-
leicht schon, auf welchen Gegenstand ich lossteuere."
„Nein, wirklich nicht," versetzte Trachberg.
„Ihr verstorbener Herr Vater sprach in seinem
Testament den sehr bestimmt ausgedrückten Wunsch
aus —"
„Ach so! —- Sie meinen, es sei Zeit, für die Er-
haltung der Hauptlinie zu sorgen," lachte Trachberg.
„Sie sprechen — kurz und bündig — von meiner
Verheiratung."
„Ich glaube allerdings," sagte Geisler ernst, „ohne
aufdringlich mit meiner Meinung sein zu wollen, daß
der Wunsch Ihres Herrn Vaters sehr berechtigt ist."
„Liebster, bester Justizrat!" rief der Graf halb
belustigt, halb ungeduldig. „Sind Sie gekommen,
mir die Pistole aus die Brust zu setzen? Haben Sie
etwa schon Brautschau für mich gehalten?"
„Ziemlich. Ihr achtunddreißigster Geburtstag steht
vor der Thür, Herr Graf."
„Und die ganze Geschichte mit allem Brimborium,
das daran und darum hängt, soll bis Mitte Februar
fix und fertig sein?"
Der Justizrat nickte. „Ich weiß aus guter Quelle,
daß königliche Hoheit den gleichen Wunsch hegt und
auszusprechen beabsichtigt."
„So! Nun, dann wäre über diesen Punkt alles,
gesagt, was darüber zu sagen ist."
Plötzlich, den etwas verschärften Ton in liebens-
würdige Glätte wandelnd, fragte Maximilian Trach-
berg mit leichter Neugier: „Sagen Sie mal, Herr
Justizrat, die Familie Debellaire ist Ihnen weiter
nicht bekannt durch Ihren Neffen?"
„Durch meinen Neffen gar nicht. Aber der Name

kam mir in Erinnerung —- durch die Erzähluugen
der jungen Dame. Ich wußte bestimmt, daß ich von
den Debellaires schon hatte sprechen hören, aber wann
und wo —?"
„Jetzt wissen Sie's?"
„Ja. Als junger Mensch, besser gesagt als
Junge, hörte ich ihn von einer bejahrten Stieftante
meiner Mutter, einer altangesessenen Würzburgerin,
in deren Häuschen die geflüchteten Debellaires wohn-
ten und großes Ansehen genossen. Sie hat auch von
dem Großvater der jungen Dame gesprochen, der,
wenn ich mich recht erinnere, später eine österreichische
Gräfin Thun geheiratet hat."
„Und die Mutter der Komtesse? — Das wissen
Sie nicht?"
„Nein. Ich bringe es aber leicht in Erfahrung,
wenn —"
„Kein Wenn! Kein Wenn! Durchaus gar nichts!"
scherzte der Graf, sich erhebend. „Thun Sie, was
Sie nicht lassen können. Und jetzt muß ich Sie wieder
zur Gesellschaft zurückführen, der ich Sie schon viel
zu lange entzog."
Sie lachten beide und verließen das Zimmer. Auf
dem kühlen Mosaikboden der Galerie promenierten
jetzt plaudernde Paare zu den lustigen Tanzweisen
der aus weitgeöffneten Thüren schallenden Musik.
Auf den letzten hellpolierten Treppenstufen trennte
sich der Graf von seinem Begleiter. Er sah seinen
Vetter Eduard auf sich zukommen.
„Thut mir herzlich leid, Max, aber Bettys Nerven
spuken schon wieder bedenklich. Wir müssen fort,"
sagte Graf Eduard.
„Ach, kein Gedanke!"
„Sprich also selbst mit ihr. Sie sitzt drüben allein
unter der Palme. Ich werde gleich wieder bei euch
sein, vorläufig habe ich ein Engagement —"
Verstimmt über die Hartnäckigkeit einer Neignng,
die nicht aushören konnte, ihn an einen Moment der
Schwäche zu gemahnen, schritt Trachberg in der be-
zeichneten Richtung nach einem roten Eckdiwan, über
welchen das Laubdach einer mächtigen Fächerpalme
sich breitete.
„Betty!"
Sie schaute auf. Tiefe Schatten lagen unter ihren
Augen. „Endlich!" sagte sie hastig, und ein Leuchten
glitt über ihre Züge.
„Darf ich mich neben Sie setzen? Sie haben einen
ausgezeichneten Platz gewählt," fuhr er mit Betonung
fort. „Man übersieht die ganze Scene, und die ganze
Scene sieht hierher."
Sie nickte. Das Tranmglück der verflossenen Nacht
überdrang sie wieder mit heißem Entzücken. O! Mit
ihm fliehen! Weit fort aus allen Ketten — aus aller
Lüge! Frei sein und ehrlich in seiner Liebe —
„Betty," sagte er ernst, ihr fieberndes Gedanken-
spiel unterbrechend. „Ich möchte eine Frage an Sie
richten, die Sie mir abzwingen."
Er nahm ihr den Fächer aus der Haud und be-
wegte ihn spielend.
„Sie wollen, daß ich mich vor Ihnen schuldig
bekenne. Sie wollen mir keine Demütigung ersparen.
Meine Selbstvorwürfe sehen Sie für nichts an. Ohne
Gnade verweisen Sie mich an die Mahnung meines
Gewissens. Was soll ich thun, mir Ihr verzeihendes
Vergessen zu erwerben?"
Von der Wendung, welche er dem seligsten Vor-
kommnisse ihres verfehlten Lebens gab, fast bis zur
Sprachlosigkeit erschreckt, fuhr sie leidenschaftlich auf.
„Sie glauben —?"
„Geben Sie besser acht ans sich. Wir sind nicht
allein," sagte er tadelnd.
„Und hätten es nie — nie sein sollen!" flüsterte
sie schwer atmend.
„Sprechen Sie uns frei, so ist nichts geschehen,"
versetzte er lächelnd. „Einer schönen Seifenblase darf
man nachsehen. Angreifen darf man sic nicht; sie
vergeht von selbst. Es weht manchmal ein Wohl-
geruch unerwartet durch die Luft. Man atmet ihn,
aber zerlegen kann man ihn nicht, festhalteu auch
nicht. Der Spießbürgergeist nimmt gern alles zu
Protokoll, der freie Geist schwingt sich —"
Er konnte nicht vollenden. Sie preßte ihre Hand
auf seinen Arm.
„Ich weiß nicht, ob's Ihr Ernst ist, ob's Scherz
ist. Das aber weiß ich. Sie können mein Herz nicht
für ein Spielwerk halten, das hin und her geschaukelt
werden darf. Es hat die Riesenkraft besessen, Sie
zu täuschen — Sie und Eduard! Was bleibt ihm,
nun es diese Kraft verlor?" — Sie lachte bitter und
unsäglich traurig. — „Doch nicht etwa die Freude
an einer Seifenblase?"
„Eduard kommt!" sagte er rasch. Mit scharfem
Flüstern fügte er hinzu. „Ich stehle kein Glück. Und
Sie sind nicht die Frau, es mich stehlen zu lassen."
Sie atmete aus.
Nicht stehlen! O, wie recht hatte er. Frei er-
kämpfen vor aller Welt, das war das richtige!
„Wir sprechen noch darüber," flüsterte sie lächelnd.

Heft 4.
„Vergeben Sie mir den Irrtum. Er schnitt in mein
eigenes Herz. — Ich bleibe noch, Eduard!"

5ecb;tes iicipitel.
Marie Antonie stand am Fenster und blickte hinaus
in das Schneegestöber, während im angrenzenden
Salon Frau v. Lüttmig die letzte Hand an ihren
Weihnachtsaufban legte, denn es war Heiligabend.
Nicht froh und in Ungeduld wie sonst schlug heute
Marie Antoniens Herz. Mehr als ein Wehmuts-
tropfen verdarb ihr die Kinderfrende.
Paket und Brief waren pünktlich an den Vikomte
gesandt, aber die Vorstellung, wie jetzt der einsame
Mann beim Lampenlicht die Schnüre löste, füllte
der kleinen Vikomtesse Augen mit Thränen.
Warum hatte sie auch nicht alles hier im Stich
gelassen und war zu ihrem herzlieben Papa geeilt?
Wie hieß der Magnet, der stärker wirkte als ihre
Kindesliebe?
Die Hellen Tropfen, welche über ihre Wangen
rollten, galten sie nur dem Vaterhause, oder mischte
sich ein anderes wundersames Gefühl darein, be-
ängstigend zwar, aber doch so schön, daß Marie
Antonie es nicht hätte missen mögen um alles in
der Welt?
Wieder sah sie in das Schneetreiben hinaus. Jetzt
mit heimlicher Freude.
Des Grafen letzte Worte in Holdenberg waren
ja gewesen, als er ihre Vorliebe für Schlittenfahrten
vernahm: „Sorgen Sie nur für den Schnee, so sorge
ich für das übrige,", hatte er gesagt. Und nnn
schneite es.
Mit ihm und neben ihm dahinznfahren, nein,
dahinzusausen über die glitzernde Decke — welch ein
Entzücken mußte das sein!
Ob noch schöner als das Zwiegespräch mit ihm
in der stillen, einsamen Bildergalerie des Schlosses?
Sie dachte so lange darüber nach, bis es völlig
dunkel geworden war. Totenstille lag nun über den
Straßen. Wagenrasseln und Räderrollen erstickte
längst im Schnee.
Plötzlich kam ihr wieder ein anderer Gedanke.
Sie erinnerte sich lebhaft jenes schrecklichen Mo-
mentes, da die Baronin plötzlich aus dem Zimmer
verschwunden war, worin sie sich, Marie Antonie,
mit dem Rittmeister v. Kirchstein befand.
O, wie sie gezittert hatte vor Aerger in seiner
Nähe! Wie sie sich gefürchtet hatte vor seinem Lächeln!
Wie sie endlich bei seinem ersten Versuch, sich ihr zu
nähern und ihr eine Liebeserklärung zu machen,
davongelaufen war, quer durch den Salon, wo Frau
v. Lüttmig und Betty Trachberg den Erfolg ihrer
Kuppelkünste abwarteten! Und dann hatte sie sich
geschämt, o, wie geschämt, ihrem strengen Papa diese
häßliche Geschichte zu beichten/ —
Die Flnrglocke läutete. Irgend ein Besuch mußte
angemeldet worden sein; Marie Antonie hörte die
Baronin nebenan ihr stilles Wirken mit einem Ueber-
raschungsruf unterbrechen.
In der That, Frau v. Lüttmig hatte allen Grund,
überrascht zu sein, denn der Besucher war der Vikomte
v. Debellaire.
„Sehr willkommen, lieber Vetter!" rief die Ba-
ronin, ihr Unbehagen geschickt verbergend. „Wie kann
ein Wunsch so stark in die Ferne wirken! Sie gerade
wünschte ich mir zu Hilfe. Morgen schon sollte ein
Brief an Sie -abgehen."
„Wenn dies ein Ueberfall ist," versetzte der Vikomte
mit vieler Wärme, „so verzeihen Sie ihn einem be-
sorgten Vater. — Es war mir unmöglich, heute
meiner Tochter fern zu sein. Marie Antoniens letzte
Briefe sind nicht mehr die bedingungslos glücklichen
Ergüsse der ersten Wochen. Weshalb? Sie werden
mir Aufschluß darüber geben können, Cousine."
„Ei," lächelte die Baronin, „einmal muß doch auch
das Kind anfhören. Zudem wurde von solcher Wand-
lung hier nichts bemerkt. — Nehmen Sie Platz,
Vetter! — Es handelte sich nämlich in letzter Zeit
um Marie Antoniens Zukunft, welche mir wie einer
Blutter am Herzen liegt."
Der Vikomte verneigte sich. Er interessierte sich
mehr für das, was seine Tochter betraf, als für die
Gefühle Tante Tinas.
„Haben Sie die Güte, Cousine, mich über etwaige
Absichten aufzuklären. Ich werde nicht anstehen, meine
Stellung zu dem Gesagten gewissenhaft einzunehmen."
Die Baronin, infolge ihres mißlungenen Atten-
tates nur noch mehr geärgert von der Förmlichkeit
ihres Gegenüber, begann nnn in volltönenden Worten
die Vorzüge des Rittmeisters v. Kirchstein ausein-
anderzusetzen. „Sie werden mir zugebcn, Vetter,"
schloß sie ihren glänzenden Vortrag, „daß ein Mäd-
chen in Marie Antoniens pekuniärer Lage nicht darauf
Anspruch machen kann, neben allen sonstigen guten
Gaben auch noch eine Liebesheirat zu machen. Es
genügt, daß der Betreffende sie liebt. Selbst Prin-
zessinnen heiraten ohne diese Gewißheit."
 
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