Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

DOI issue:
Heft 4
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.44085#0097
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Das Buch für Alle.

89

Heft 4.
Sehr wahr, Cousine," sagte der Vikomte, dem
schmeichelhaften Vergleich seiner Tochter mit einer
Prinzessin diesmal keine Beachtung schenkend. „Jn-
dessen — dieser Herr v. Kirchstein gehört dem kleinen
Adel an, der eigentlich gar kein Adel ist."
/Adel ist Adel," widersprach die Baronin. „Außer-
dem wiederhole ich Ihnen, was ich bereits Marie
Antonien ans Herz legte. Ein Rittmeister der Ka-
vallerie ist so gut wie Baron, auch wenn er nur
v. Kirchstein heißt. Ja, man erlebt es alle Tage,
daß selbst ein bürgerlicher Offizier dieser Waffen-
gattung von der besten Gesellschaft für gleichberechtigt
gehalten wird."
Ter Vikomte, ohne dieses außerordentliche Zu-
geständnis zu beachten, fragte ruhig: „Der Vater des
Herrn v. Kirchstein?"
„Wurde geadelt," sagte Frau v. Lüttmig etwas
verlegen. „Mein Gott, Vetter, Sie thun wirklich,
als ob Marie Antonie eine Million hinter sich hätte!"
„Und die Mutter?" fuhr der Vikomte ungerührt
in seinem Examen fort. „Darf ich fragen, aus wel-
chem Hause die Mutter des Herrn Rittmeisters
stammt?"
Die Baronin hüstelte. Dann sagte sie gezwungen
lächelnd: „Die Mutter— sie ist tot — war eine ge-
borene Mayer, einziges Kind des reichen Bankiers
Mayer."
Der Vikomte blickte sie einen Moment starr an,
sie anscheinend aus ihre Zurechnungsfähigkeit prüfend.
Dann strich er sich einigemal über die schwellende
Zornesader. Hierauf sagte er beleidigend höflich und
zwar in französischer Sprache, die ihm bei tiefen seeli-
schen Erschütterungen über die Lippen zu kommen
pflegte: „Unendlichen Dank für Ihre gütigen Be-
mühungen, Madame. Aber meine, wenn auch geringe
Hinterlassenschaft ermöglicht es dem Fräulein v. De-
bellaire, in ein Adelsstift einzutreten, woselbst sie nie-
mals aufhören wird, sich unter ihresgleichen zu be-
finden."
„Vetter, Sie sind altmodisch! Heutzutage nach
dem Ursprung solchen Vermögens unter solch glän-
zendem Deckmantel zu fragen!" ries die Baronin
innerlich erbost, äußerlich mitleidig lächelnd. „Wir
waren, so viel ich weiß, damals übereingekommen —"
„Madame," fiel der Vikomte in stolzer Haltung
ein, „Madame, meine Tochter ist siebzehn Jahre! Die
letzten beiden Debellaire, mein Vater und ich, sind
erst in vorgerücktem Lebensalter zur Ehe geschritten.
Lieber auf ein früheres Glück in derselben verzichten,
als gegen Familientraditionen verstoßen! — Madame,
selbst wenn es sich in diesem Falle um keinen Stamm-
halter handelt, und ich Zugeständnisse machen wollte
— Schwiegertochter der Demoiselle Mayer zu werden,
würde ich meiner Tochter nicht zumuten."
„Gut, thun Sie, was Sie wollen!" sagte die
Baronin, all die schönen Anzüglichkeiten, welche ihr
der Vikomte gewissermaßen mit tiefer Verbeugung
überreichte, lächelnd einstcckend. „Sie sind verant-
wortlich !"
„Das bin ich, Madame. Ich bin der letzte Debellaire,
das heißt, der letzte eines Geschlechtes, welches unter
Heinrich von Navarra schon zu Felde zog. Muten
Eie mir nicht zu, mit einer solchen Untreue ins Grab
zu steigen."
Im geheimen imponierte diese Anschauungsweise
Frau v. Lüttmig, obzwar sie darüber'spöttelte. „Sie
leben, glauben Sie mir, in einer anderen Welt, lieber
Vetter!"
„Mag sein!" erwiderte der Vikomte, nunmehr sich
der deutschen Sprache wieder bedienend, „aber aus
dieser Welt will ich mein einziges Kind nicht ver-
stoßen. — Erlauben Sie mir. Ihnen die Hand zu
küssen zum Dank für die meiner Tochter erwiesene
Güte. Ich werde Marie Antonie mit mir zurück-
nehmen."
„Wie?" rief die Baronin erschüttert, denn die
ganze Reihe der lebenden Bilder, Liebhabertheater
und Kostümfeste, bei denen sie als Tante des „Sternes"
im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeiten stand, zog mit
Blitzesschnelle an ihrem Geistesauge vorüber. „Das
werden Sie mir nicht anthun, Vetter! Marie Antonie
hat bindende Zusagen gegeben. Sie kann nicht fort."
„Der Rittmeister v. Kirchstein —"
„Mag sich versetzen lassen, wenn er Lust hat. Hat
er keine Lust, mag er hier bleiben. Ein Korb ist
weiter kein Unglück."
„Mein Vatergefühl ist beunruhigt. Wir ziehen
uns zurück."
„Dann wären Sie also nur gekommen, Marie
Antonien und mir das Weihnachtsfest zu verderben!"
rief die Baronin erbittert, faßte sich aber sogleich
und sagte liebenswürdig: „Kein Gedanke, Vetter!
Das Zimmer meines verstorbenen Mannes wird im
Augenblick für Sie hergerichtet sein."
„Vielen Dank, Cousine, ich nahm schon Wohnung
rm Gasthof. Auf drei bis vier Tage kann ich meinen
Aufenthalt hier immerhin ansdehnen."
„Gott sei Dank!" seufzte Tante Tina im stillen.

„Zeit gewonnen, alles gewonnen! — Und nun, Vetter,"
fuhr sie fast liebevoll fort, „werde ich Sie unserer
Marie Antonie mit aufbauen auf den Weihnachts-
tisch. Keine Widerrede! Denken Sie, welch ein Spaß!"
Es läutete abermals.
„Meine Tochter Betty kommt mit ihrem Mann!"
rief die Baronin, sich hastig unterbrechend. „Einen
Moment, Vetter!"
Sie war schon im Vorzimmer, wo sie die Gräfin
niit beiden Händen umfaßte, ohne ein Auge zu haben
für deren tiefe Blässe, noch ein Interesse an den:
jähen Zusammenzncken derselben.
„Der alte Debellaire ist mir plötzlich hereingeschneit,
er will Marie Antonie fortuehmen. Rede ihm zu,
daß er mir diese Blamage nicht macht!"
Betty Trachberg sagte nichts. Ihr klang die Bot-
schaft wie eine Verheißung in den Ohren. Sic konnte
ja die Furcht der Eifersucht nicht abschütteln.
Diese Nächte! Hin und her geschlendert zwischen
Lust und Leid, Angst und Zuversicht wie ein Wrack
im Meer; von süßen Träumen eingewiegt, vom Zweifel
aufgeschreckt. Mehr als zehnmal entschlossen, dem
nichtsahnenden Gatten die Wahrheit zu enthüllen,
und immer wieder zurückgeschreckt durch die Todes-
gefahr, in welche dieses Geständnis ihn und den Ge-
liebten stürzte.
Als sie des Vikomtes ansichtig ward, überkam
heißes Dankgefühl ihr gepeinigtes Herz. Aber so
tief war sie schon von ihrer sittlichen Höhe herab-
geglitten, daß kein reines Empfinden mehr in ihr
wach werden konnte.
Die Hand Herrn v. Debellaires ergreifend, sagte
sie, als die Baronin in den Salon zurückgekehrt war,
das Anzünden des Christbaumes zu besorgen, mit
scharfem Nachdruck und ohne Mitleid mit dem Schmerz,
welchen sie ihm verursachte: „Sie thun gut daran,
Marie Antonie möglichst bald mit sich zu nehmen.
Ihr Ruf ist in Gefahr, Schaden zu erleiden. Mama
nimmt oie Sache mit dem Rittmeister viel zu leicht."
Bebend vor Entrüstung und Selbstvorwürfen machte
der Vikomte eine Wendung nach der geschloffenen
Salonthür, als diese sich öffnete, und der Baronin
winkende Hand sich zeigte: „Schnell, Vetter, an Ihren
Platz! Ich höre Marie Antonie im Gange."
Er trat ein, ohne zu sehen, welch eine Lichtfülle,
welch überreicher Luxus ihn rings umgab. Nur auf
jene Stelle fiel sein Auge, welche Fran v. Lüttmig
ihm als Marie Antoniens Platz bezeichnete, und wo
ein mächtiger Korb aus Veilchengeflecht mit Henkel-
bouquet, gefüllt mit dem herrlichsten weißen Flieder,
zu sehen war. Neben dieser fürstlichen Gabe des
Grafen Maximilian stand Herr v. Debellaire klopfen-
den Herzens, als beim dritten Glockenschall Thür und
Vorhang sich öffneten.
„Die Kinder voran!" rief Eduard Trachberg und
schob Marie Antonie vor Betty hin.
Geblendet hielt die kleine Vikomtesse einen Mo-
ment die Wimpern gesenkt, dann, ausschanend, stieß
sie einen Jubelschrei aus und stürzte, alles um sich
her vergessend, in des Vikomtes weitgeöffnete Arme.
„Papa! Liebster, bester Papa!"
„Ich komme, dich zu holen," flüsterte Debellaire,
einen Kuß aus ihr dunkles Haar drückend.
Da schlug es wie ein Blitz in ihren Freudenrausch.
Maximilian Trachberg nicht wiedersehen sollen —
die Thränen stürzten ihr aus den Augen.
„Keine Rührung!" drohte die Baronin lächelnd.
„Sehen wir lieber nach, Kindchen, was das Billet
enthält, welches Max im Flieder —"
Sie kam nicht weiter. Marie Antonie hatte den
kleinen Umschlag schon geöffnet und las mit glück-
lichem Lächeln.
„Der Graf will mich im Schlitten fahren —
morgen um zwei Uhr!" rief sie, ließ das Blatt fallen
und warf sich von neuem dem Vikomte an die Brust.
„Graf Maximilian Trachberg ist das Familien-
oberhaupt, lieber Vetter!" erläuterte Frau v. Lüttmig.
„Ich sehe darin eine Auszeichnung für Marie An-
tonie, die mich — und ich glaube, auch dich, Betty —
überrascht."
Der Vikomte, nach dieser Ankündigung einen wür-
digen alten Herrn in Gedanken vor sich sehend, hatte
nichts an dieser Auszeichnung seiner Tochter auszu-
setzen, um so weniger, als die Baronin jetzt das Billet
an sich nahm und zu Ende las.
„Max bringt noch einen zweiten Schlitten mit —
der wäre also jetzt für uns beide, Vetter. Betty und
dn, Edi, ihr nehmt euer eigenes Gefährt. Im Forst-
hause ist Kaffee und Kuchen bestellt. Natürlich for-
dere ich Max später auf, bei uns den Thee zu neh-
men. — Mein lieber Vetter, Sie werden die Reise
sicher nicht bereuen, sobald Sie die Bekanntschaft
dieses Mannes, dieses demnächst erlauchten Mannes,
gemacht haben."
Die Lichter brannten, die Zweige dufteten. Ein
heimliches Knistern und Raunen glitt durchs Geäst.
Marie Antonie, ihre Wangenglnt im weißen Flieder
kühlend, lauschte ihm, das Herz voll unermessener

Wonne. O, Flügel der langen, langen Winternacht!
Sonnenglanz dem kommenden Tage! Und dann ein
Stillstehen der Zeit in alle, alle Ewigkeit!
Pünktlich um zwei Uhr nachmittags tönte Helles
Schlittengeläut die Straße herauf.
Ueber die glatte Schneebahn, zwischen dem Rauh-
reifschmnck der Bäume, unterm Licht des sonnenhellen
Winterhimmels, hatte Graf Maximilian in seinem
Muschelschlitten den Weg von Holdenberg zur Stadt
im Fluge zurückgelegt. Er lenkte das schöngeschmückte
Jsabellengespann mit eigener Hand, während der Leib-
jäger hinter ihm ein dichtverhülltes Paket sorgsamst
im Arm hielt. Seinem Gefährt folgte ein zweites,
vom Kutscher gelenkt.
Vor der Wohnung Tante Tinas angelangt, warf
Trachberg dem Diener die Zügel zu, stieg aus und
schritt die Treppe hinan. Von oben herab eilte ihm
schon die Baronin mit Herrn v. Debellaire und Marie
Antonie, letztere tief errötend, entgegen.
Debellaire hatte alle Mühe, den Ausdruck unan-
genehmster Ueberraschnng hinter einem höflichen Gruß
zu verbergen. Hätte er sich in seinem eigenen Hause
befunden, ja, wäre er nur der schweigenden Zustim-
mung seiner merklich erregten Tochter sicher gewesen,
er würde einem so intimen Beisammensein derselben
mit diesem Familienoberhaupte kurzerhand seine Ein-
willigung versagt haben.
„Lieber Graf," fagte jetzt die Baronin, „wie freue
ich mich, Sie mit Marie Antoniens Vater, dem
Vikomte v. Debellaire, bekannt machen zu können."
Trachberg, welcher die hagere, vornehme Erschei-
nung des Vikomte flüchtig gemustert hatte, reichte
diesem aufs verbindlichste die Hand.
Als Herr v. Debellaire seine Fingerspitzen in die
Rechte des Grasen legte, packte ihn ein Gefühl, als
presse sich ihm das Herz zusammen unter einem
dnmpfheißen Druck. Es war nicht sein altes Herz-
leiden, das ihn oft genug quälte, keine Schwindel-
anwandlung, sondern eine jähe Anreizung, sein Kind
der Nähe dieses Mannes zu entziehen, der, wie sein
Vaterauge erkannte, Marie Antoniens Ruhe schon
gefährlich geworden war.
Eben wendete sich Graf Maximilian an diese.
„Ich darf also das Vorrecht in Änspruch nehmen,
Komtesse?"
Sie nickte und stieg wie beflügelt neben ihm die
Stufen hinab. Der Leibjäger hatte die Hülle des
Paketes jetzt gelöst und den Inhalt seinem Gebieter
überreicht. Es war ein reizender Muff aus weißem
Pelz, ganz überflochten von frischen roten Rosen.
„Ich bitte, Komtesse, steigen Sie ein."
Sie gehorchte völlig verwirrt. „Ich bin so —"
„So reizend —" flüsterte er scherzend, das weiße
Eisbärenfell des Schlittens fest um sie breitend.
„Nein — traurig."
Er setzte sich neben sie und nahm die Zügel.
Schon flogen sie davon durch die feiernden Straßen,
umtönt vom Schellengeläut, umweht von Rosenduft.
„Traurig? Weshalb?" fragte er in französischer
Sprache, die Unterhaltung dem Ohre des Leibjägers
entziehend.
„Ich muß fort —" und das Herz ward ihr zum
Brechen schwer. „Tante Tina mit dem Rittmeister
ist schuld daran. O, Papa war so böse! Er ist es
noch."
„Dann muß man ihn wieder gut machen." Er
ließ einen lächelnden Blick über ihr Gesicht gleiten.
Das Bewußtsein, dieses betrübte Kinderantlitz mit
einem Liebeswort zu strahlender Glückseligkeit zwingen
zu können, gewann erhöhten Reiz für ihn.
„O, das ist nicht leicht bei Papa," sagte Marie
Antonie leise. Dabei stiegen ihr die Thränen so heiß
zum Auge, daß sie uicht rasch genug den Rosenmuff
erheben konnte, sich scheinbar an seinem Dufte zu
erfreuen.
„Holdenberg wollen Sie also nicht wiedersehen?"
fragte Trachberg, diese verheimlichten Thränen über-
sehend. „Das ist sehr grausam, sehr unfreundschaftlich
von Ihnen. Ich glaubte, es habe Ihnen gefallen!"
Helles Schlittengeläut übertönte fast diese letzten
Worte.
„Pardon!" rief Eduards freundliche Stimme. „Wir
sind aus der Reihe gebrochen, um guten Tag zu
sagen." Damit lenkte er sein Gespann dicht an das
des Grafen, und beide Schlitten sausten eine Minute
nebeneinander hin.
Bettys Antlitz unter dem schwarzen Schleier
strahlte, von kaum noch verborgenem Schmerz durch-
geistigt, die Tiefe der Leidenschaft wider, welche sie
unwürdig aufstachelte, sich an die Nähe dieses Mannes
zu ketten, der ihren Gruß schon wie das Aufklirren
einer drückenden Kette empfand.
Graf Maxiniilian, allzeit Meister über seine Hal-
tung, wandte verbindlich das Hanpt zur Seite. Aber
seine heitere Stimmung verflog rettungslos. So nahe
war ihm das schöne Fraucnantlitz, so nahe ihm das
Zittern ihrer weißen Lider und roten Lippen, daß
 
Annotationen