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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 48.1913

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Heft 2
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28
Neffen. „So, nun wollen wir mal die Ines auf-
fuchen. Die trödelt noch mit ihren Blumen herum.
Ob wir was Ordentliches zu essen haben, das küm-
mert sie nicht. Aber Blumen schleppt sie herbei.
Alles englische Marotten! Erst dachte ich, das wächst
sich aus wie bei den Pferden der kupierte Schweif,
aber bei ihr scheint's höllisch fest zu sitzen."
„Kein Wunder, da du deine Tochter ganz in
England aufwachsen ließest," warf Leo ein.
„Ja, das war der Fehler. Aber was sollt' ich
tun? Ich hatt's meiner Frau auf dem Sterbebett
versprochen, das Kind sofort zu ihren Verwandten
nach England zu schicken."
„Was konntest du auch mit dem kleinen Däm-
chen anfangen?"
„Vernünftiger wäre sie bei mir schon geworden,
aber —"
Der alte Oertzin stockte, denn ihm fiel ein, daß
er die Tochter nicht schlechtmachen dürfe, sonst würde
der junge Offizier am Ende kopfscheu. Wie der
später mit ihr zurecht kam, sollte ihn kalt lassen.
Er lächelte schlau. „Solch junges Ding kann
ein Mann sich noch ziehen," meinte er ziemlich un-
vermittelt aus seinen Gedanken heraus. „Aber
ich bin zu alt dazu."
Leo sah ihn erstaunt an. Aber ehe er noch eine
Frage stellen konnte, hatten sie das Blumengärtchen
schon erreicht, und Ines mit ihrem Malvenstrauß
im Arm kam ihnen entgegen.
„Dein Vetter Leo Oertzin," sagte der alte Herr
kurz. „Gib ihm die Hand!"
Ines streckte ihrem Vetter die Hand entgegen
mit der Miene einer huldvollen Königin, die sie
ihrem Untergebenen zum Kuß reicht.
Er sah überrascht in das von der Sonne rosig
getönte Gesicht unter dem großen Weißen Strohhut,
der unter dem Kinn mit einer blauen Schleife zusam-
mengebunden war. So hübsch hatte er sich seine
junge Verwandte nicht gedacht. Sie glich einem be-
kannten englischen Bilde, der reizenden Herzogin von
Devonshire. Dasselbe zarte Gesicht mit den mandel-
förmigen, langbewimperten Augen, der hochmütigen
Wendung des Kopfes, dem reichen Blondhaar.
„Nun, du sagst ja gar nichts?" schmunzelte der
alte Oertzin. Das Entzücken des Neffen entging
ihm nicht. „Du bist Wohl enttäuscht, weil die Ines
gar nicht wie eine Oertzin aussieht?"
„Nein, das tut sic nicht," entgegnete der junge
Offizier, der keinen Blick von dem reizenden Ge-
sicht unter dem Florentiner Strohhut verwandte.
„Aber ich kann nicht finden, daß das zu beklagen ist."
Ines warf den Kopf hochmütig in den Nacken,
obwohl die deutliche Bewunderung ihrer Schönheit
ihr schmeichelte. Aber sie wollte ihre deutschen
Verwandten nicht liebenswürdig finden noch ihnen
näher treten. Übrigens leugnete sie nicht, daß ihr
die Erscheinung und das Benehmen des jungen
Offiziers gefielen. Er war weder steif noch zudring-
lich, sondern sah wirklich hübsch und elegant aus,
ganz anders, als sie ihn sich gedacht hatte.
„Geht zusammen zu den Himbeerbüschen," schlug
der alte Oertzin vor, als wenn die beiden noch
Kinder wären, die sich am raschesten beim Naschen
befreunden. „Zeige jedenfalls deinem Vetter den
Garten, Ines. Er wird ihn hübsch herangewachsen
finden, seit er ihn zuletzt sah."
„Zu sehen ist an diesem Garten gar nichts,"
sagte das junge Mädchen, indem sie mit dem Vetter
davonging. „Deutsche Gärten sind merkwürdig. Hier
ein Weg, da ein Rasenfleck, kleine krickelige Beete da-
zwischen. In England kennt man nur alte Baum-
gruppen, weite Grasflächen. Man lebt auf dem
Rasen, spielt darauf Tennis, lagert sich, trinkt Tee."
Der Kiesweg war so schmal, daß beide dicht
nebeneinander gehen mußten.
Leo wußte nicht, ob er in diesem Augenblick
Ines mit dem verächtlich gerümpften Näschen und
hochmütig abweisenden Ausdruck angenehm finden
sollte. Aber das wußte er, die kleinen Nackenlocken,
die sich aus dem Flechtenknoten herausstahlen, waren
entzückend. Weich wie gesponnene Seide lag das
flimmernde Haar auf der weißen Haut ihres Halses.
Wie entzückend mußte das sein, sich dieses blonde
Haar durch die Finger gleiten zu lassen oder gar
die mutwillig krausen Locken zu küssen!
Er mußte selber lächeln über seine kühne Phan-
tasie.
„Sie vermissen natürlich England sehr, und alles
kommt Ihnen hier noch fremd und unbehaglich vor,"
sagte er nach einer Weile. Gewaltsam verbannte
er seine übermütigen Gedanken. Er konnte sich
nicht entschließen, seine junge Verwandte gleich in
der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft mit „Du"
anzureden. Nm so mehr als diese Anredeform in
der englischen Sprache ungebräuchlich ist.
„Alles ist abscheulich in Rotenwalde!" Ines
blieb stehen und schob mit ihrer schmalen Fußspitze
ein paar Steinchen im Kieswege hin und her.

—.... —i V35 Luch für- Mle -
„Hier ist doch Ihre Heimat, Ines!"
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, meine Heimat ist
dort, wo der Mensch lebt, den ich am meisten liebe."
Leo fühlte sich unangenehm berührt. Er hätte
selbst nicht zu sagen gewußt weshalb. Wahrscheinlich
steckte irgend ein Engländer der kleinen Schönheit
im Kopf. Daher das Heimweh und die Sehnsucht.
Er sah sie aufmerksam an. Einen Ring trug sie nicht
an der Hand, aber eine lange, feingeschmiedete Kette
um den Hals. Eine flache, goldene Kapsel hing daran.
Schade, daß er sie nicht fragen konnte, wessen Bild
sie so zärtlich bei sich trug.
„Eigentlich müßte Ihr Vater Ihnen am teuer-
sten sein," sagte er nach einem kurzen Stillschweigen
in leicht verweisendem Ton.
„Mein Vater?" Ines öffnete weit die Augen.
Jetzt sah Leo erst, daß ihre Augen nicht grau oder
braun, sondern tiefblau wie Veilchen waren. „Nein,
den hab' ich gar nicht sehr lieb."
„Aber Ines!"
„Nein wirklich — kein bißchen! Wie kann ich
jemand lieben, der mir alle meine Bitten abschlägt!"
„Tut er das immer?"
„Ja — jeden Wunsch, jede Bitte weist er ab."
Leo ertappte sich bei dem Gedanken, daß er
selbst das Ines gegenüber nur sehr schwer fertig
bringen würde.
„Wie eine Gefangene lebe ich in diesem ent-
setzlichen Haus!" klagte das junge Mädchen. „Und
der Mensch, den ich am meisten liebe, der zu mir
kommen wollte, um mich zu trösten, mir zu helfeu,
der darf das nicht!"
„Ihr Vater billigt Ihre Wahl nicht?"
„Meine Wahl?"
„Nun ja. Sie sprechen doch gewiß von einem
Verehrer, den Sie in England kennen lernten?"
Ines blieb stehen und sah Leo erstaunt an.
Dann lachte sie hell auf. „O wie deutsch, wie echt
deutsch! Die deutschen Mädchen sind immer ver-
liebt — nicht wahr? Schon mit sechzehn Jahren
in ihren Literaturlehrer und dann in irgend einen
Leutnant!"
Leo atmete auf. „Die englischen Damen sind
also völlig stich- und kugelfest?" neckte er.
„Das weiß ich nicht. Aber jedenfalls nicht
immer verliebt. Ich sprach von meiner Freundin,
meiner Seelenschwester, meiner geliebten Muriel."
„Verwahren Sie das Bild Ihrer Freundin in
dem Medaillon? Darf ich es sehen?"
Ines hielt ihm sofort die geöffnete Kapsel hin.
Leo erschrak fast. „Welch ein eigenartiges Gesicht!"
„Nicht wahr? Meine Muriel bezaubert jeden."
„Schön ist sie nach meinem Geschmack eigentlich
nicht." Leo sah von dem Bild fort in Ines' Ge-
sicht, das seinen Schönheitsidealen viel mehr ent-
sprach als Muriel Grahams unregelmäßige Züge.
„Muriel hat die vollendetste Gestalt, die ich je
gesehen habe," schwärmte Ines. „Sie ist die Grazie
selbst. Sie geht wie auf Sprungfedern. Und ihre
Augen!"
„Ja, die sind wundervoll!" pflichtete Leo bei.
„Fast übergroß. Ein fanatischer Blick liegt darin."
„Fanatisch? Nein. Muriel ist nur sehr ziel-
bewußt."
„Was erstrebt sie denu?"
„Das Wahlrecht für die Frauen! Das ist das
Ziel ihres Lebens. Dem opfert sie alles. Sie und
ich gehören der politischen und sozialen Union der
Frauen an. Muriel wollte Herkommen, um auch
in Deutschland Interesse dafür zu erwecken. Aber
mein Vater gibt es nicht zu."
Leo erschien auf einmal die abschlägige Antwort
des alten Herrn nicht mehr als zwecklose Grausam-
keit, sondern eher als ein Gebot der Vernunft. Aber
als er bemerkte, daß Ines mit Tränen in den Augen
die Kapsel wieder zwischen den Spitzen ihrer Bluse
verbarg, tat ihm ihr Kummer doch leid.
„Erzählen Sie mir noch mehr von Ihrer Freun-
din," bat er. „Ich kann begreifen, wie einsam Sie
sich fühlen. Wollen Sie nicht meine Schwester
Heilwig besuchen? Die wird Ihnen gefallen."
Ines bejahte ohne besondere Wärme. Sie
kam bald wieder auf Muriel zu sprechen.
Auch nur von der Freundin reden zu können,
war ihr ein langentbehrter Genuß.
Leo hörte anscheinend mit großem Interesse zu.
Hauptsächlich gefiel ihm ihr Enthusiasmus, mit dem
sie die Freundin schilderte, ihr lebhaftes Mienen-
spiel dabei. Auch ihre oft etwas absonderliche Art,
sich auszudrücken, der englische Akzent entzückten ihn.
„Muriel könnte im größten Luxus bei ihrem
Vormund, dem Lord Sytton, leben," erzählte Ines.
„Lord Sytton ist sehr reich und liebt Muriel wie eine
Tochter. Er möchte sie auch gern mit seinem ältesten
Sohn George verheiraten. Der wird später auch
Lord und soll ins Parlament."
„Die Zukunftsaussichten Ihrer Freundin scheinen
ja glänzend zu seiu —"

. 2
„Muriel schlägt alles aus. Sie lebt in einer
bescheidenen Pension in London, besucht Fabrik-
arbeiterinnen, hält Versammlungen ab und wirkt
und wirbt für das Wahlrecht der Frauen, das all
den schreienden Ungerechtigkeiten der jetzigen Ge-
setze, unter denen wir leiden, ein Ende machen soll.
Unglücklicherweise ist Lord Sytton dagegen. Die
ganze liberale Partei im Parlament schlägt die
Petition der Frauen rundweg ab. Aber wir werden
doch siegen! Geht's nicht nut Bitten und Eingaben,
so müssen wir uns unser Recht durch energischere
Maßregeln verschaffen."
„Das klingt ja ganz gefährlich! Und hier in
Mecklenburg will die unternehmende junge Dame
wirken?"
„Ja, lachen Sie nur. Einmal kommt doch der
Tag, an dem wir unser Recht erlangen."
Er verbiß ein Lächeln. Ihr Enthusiasmus amü-
sierte ihn, obgleich ihm die Reden über die Frauen-
rechte etwas abgelauscht und phrasenhaft vorkamen.
Das durfte er sich aber nicht merken lassen, ebenso-
wenig wie seine Ansicht, daß Miß Graham klüger
täte, zu heiraten und in der Ehe die eigenen Rechte
zu wahren, als sich für die sämtlicher Frauen zu
begeistern. Aber diese ketzerische Meinung würde
Ines gewiß wieder als pedantisch und kurzsichtig
verurteilt haben.
Lebhaft fuhr sie fort, ihm das Märtyrertum
der unterdrückten Frauen in England zu schildern.
„Mehr als neuntausend Petitionen nut drei Mil-
lionen Unterschriften sind in den letzten Jahren
eingereicht worden," fuhr sie eifrig fort. „Im Mai
vorigen Jahres präsentierte sich eine Deputation, die
fast alle organisierten Frauen des Landes vertrat, beim
Premierminister. Aber der Minister verweigerte jedes
Versprechen in bezug auf das Wahlrecht. Jetzt bleibt
uus nur noch übrig, den Minister dazu zu zwingen."
„Wie wollen Sie denn das anstellen?"
„Durch öffentliche Demonstrationen, sagt Mu-
riel."
„Gut, daß Sie sicher hier in Rotenwalde sind,
Ines, und nicht daran teilnehmen können," rief Leo.
„Ich hoffe zwar, Sie würden klug genug sein, um
sich auch in England von jeder öffentlichen Demon-
stration fernzuhalten —"
„Keinesfalls. Ich würde alles tun, was Muriel
für richtig hält."
Leo hatte noch nie über das Wahlrecht der
Frauen näher nachgedacht. Aber für alle Fälle
hielt er es für besser, jetzt von diesem heiklen Thema
abzulenken. Er schlug Ines nochmals vor, Heilwig
recht bald zu besuchen. Wenn der Vater keine Pferde
gab, konnten ja Diersbrocks ihren Wagen schicken.
Lachend berichtete er von dem letzten Streich der
ausgelassenen Jungen in Parchow.
Aber Ines hörte nur sehr zerstreut zu. Muriels
verbotener Besuch saß wie ein schmerzender Wider-
haken in ihrem Herzen fest und hinderte sic, an
etwas anderes zu denken.
Leo verstummte endlich, da es ihm nicht gelang,
ihr Interesse zu erregen. Langsam gingen sie dem
Hause zu.
Der alte Oertzin winkte ihnen lebhaft. Das
bereitstehende Abendbrot war allerdings recht ein-
fach. Aber schließlich schmeckten saure Milch, Kar-
toffeln und Schinken doch ganz gut. Ines hatte ihre
Malven in einer großen flachen Glasschale geordnet.
Die leuchtenden Blumen verschönten den schmucklos
gedeckten Tisch, ja die ganze nüchterne Umgebung.
Nach dem Abendbrot saßen sie draußen. Balsa-
mischer Heuduft wehte von den nahen Wiesen
herüber. Der alte Oertzin erzählte allerlei. Wirt-
schaftliches. Leo hörte mit höflicher Aufmerksamkeit
zu. Er dachte freilich an ganz etwas anderes dabei.
- Er beobachtete Ines, die mit zurückgeworfenem
Kopf schweigend dasaß.
„Zählen Sie die Sterne?" fragte er sie leise.
Sie lächelte, ohne ihn anzusehen. „Das Stern-
bild dort über dem Walnußbaum, den Orion, den
sieht Muriel auch von ihrem Fenster aus," sagte
sie nach einem Weilchen. „Wir denken immer an-
einander, wenn der Stern uns entgegenstrahlt."
Leo gab seinem Stuhl eineu kleinen Ruck. Das
schien ja eine ganz überspannte Freundschaft zwischen
diesen zwei Mädchen zu sein. Da wäre es vielleicht
noch leichter, mit einem langbeinigen Engländer
fertig zu werden als mit dieser fanatischen Freun-
din! —
Während der ganzen Heimfahrt dachte er darüber
nach, wie er es anfangen könnte, Ines aus ihren
englischen Banden zu lösen. Jedenfalls mußte
Heilwig ihm zu Hilfe kommen. Denn die arme
Ines führte wirklich ein trauriges Leben bei dem
schrulligen Vater. Kein Wunder, daß sie beständig
an England dachte und sich zurücksehnte. Es war
ganz einfach Pflicht, sich des armen Kindes an-
zunehmen.
Heilwig stimmte ihm lebhaft bei, als er ihr das
 
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