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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 48.1913

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Heft 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.47352#0039
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heft 2

v38 Luch für Mle — - — 29

auseinandersetzte. Sie war auch sofort bereit, zuerst
nach Rotenwalde zu fahren, um Ines' Bekannt-
schaft zu machen.
Obgleich das junge Mädchen sehr zurückhaltend
blieb, schickte Diersbrock doch jede Woche feinen
Wagen hinüber, um sie nach Parchow abzuholen.
Denn während der Ernte gab der alte Oertzin seine
Pferde nicht für Spazierfahrten her. Auch Leo
ritt sehr oft, manchmal sogar täglich, nach Roten-
walde.
Allmählich gewöhnte Ines sich an sein Kommen.
Seine Besuche waren doch eine Abwechslung in
dem ewigen Einerlei. Auch nahm Leo stets ihre
Partei bei den sehr häufigen Meinungsverschieden-
heiten mit ihrem Vater. Sie fing daher bald an/
den jungen Offizier zu vermissen, wenn er einmal
nicht kam.
Oft ging sie ihm auf dem schmalen Feldweg
durch die schwankenden Ähren entgegen und freute
sich, wenn sie den Hufschlag seines Pferdes oder
das kurze, scharfe Rollen des Krümperwagens von
der Landstraße her hörte.
Wie sein Gesicht jedesmal aufstrahlte, wenn
-er sie sah!
Er schien es nicht zu bemerken, daß er für sie
kaum etwas anderes war als die Unterbrechung
der monotonen Tage, der einzige Mensch, dem
sie von ihrer geliebten Muriel vorerzählen konnte,
ohne unwirsch unterbrochen zu werden. Denn der
alte Oertzin verbot es, auch nur den Namen der
Freundin in seinem Beisein zu nennen, seitdem
er in den Zeitungen von den Demonstrationen der
englischen Frauen in London gelesen hatte. Einen
geradezu aufrührerischen Charakter nahm ja dieser
Widerstand an, und mit solchen „verrückten Weibern"
sollte seine Tochter nichts mehr zu tun haben.
Er untersagte Ines streng jede Korrespondenz mit
Muriel — ein Verbot, das sie mit blassen Lippen
und eigensinnigem Gesichtsausdruck anhörte, um
es natürlich gänzlich unbeachtet zu lassen.
Trotz Staub und Hitze lief sie seitdem täglich dem
Postboten entgegen, um ihm ihre Episteln selbst
anzuvertrauen und die dünnen ausländischen Briefe,
die Muriels große kühne Schriftzüge und den Post-
stempel London trugen, eigenhändig in Empfang
zu nehmen.
viertes Kapitel.
Leo v. Oertzin überlegte gerade, ob er sich sein
Pferd bestellen und nach Rotenwalde reiten sollte,
als sein Bursche ihm einen zusammengefalteten
Zettel überreichte. Erstaunt brach er ihn auseinander
und las: „Ich bin zu Fuß von Rotenwalde herüber-
gekommen und erwarte Sie im Gasthof zur Traube.
Bitte, kommen Sie sofort, denn ich habe notwendig
mit Ihnen zu reden. Ines."
Ganz verstört sah Leo in des stramm vor ihm
dastehenden Dragoners Gesicht. „Wer brachte den
Brief, Benke?" '
„Der Hausknecht aus der Traube, Herr Leut-
nant."
„Wartet er noch?"
„Jawohl, Herr Leutnant."
„Bestellen Sie ihm, ich ließe dem gnädigen
Fräulein sagen, ich käme sofort."
Leo warf die Litewka auf einen Stuhl. Während
-er sich umzog, grübelte er beständig darüber nach,
was Ines bewogen haben könnte, den weiten Weg
zu Fuß zurückzulegen, um ihn zu sprechen. Das
hätte sie doch wirklich bequemer haben können,
wenn sie ihm einen Boten schickte. Wahrscheinlich
hatte sie eine heftige Szene mit dem Vater, und er
sollte nun den Vermittler spielen.
So schnell er konnte, eilte er nach dem Gasthof,
den er auch bald nach dem Hausknecht erreichte.
„Die Dame erwartet den Herrn Leutnant oben
im Zimmer," sagte der Wirt lächelnd, was Leo
unverschämt vorkam. Aber eine Erklärung, daß
die junge Dame seine Verwandte aus Rotenwalde
sei, wollte ihm nicht über die Lippen. Es er-
schien ihm peinlich, Ines' Anwesenheit diesem
Menschen gegenüber erklären oder gar rechtfertigen
.zu sollen.
Wie kam nur dieses zurückhaltende Mädchen
dazu, solch ungewöhnlichen Schritt zu tun? Viel-
leicht dachte man in England freier in solchen Dingen
als hier in der kleinen Garnison. Da hätte die
Tatsache, daß Ines allein im Gasthof ihren Vetter
sprechen wollte, genügt, um einen großen Klatsch
zu entfesseln, der dem jungen Mädchen den Ruf
verderben konnte.
Mit einem sehr ernsten Ausdruck betrat er das
Zimmer, das ihm der Kellner anwies.
Ines saß im Hellen Staubmantel, mit dem Hut
auf dem Kopf in einer Ecke des schwarzen Leder-
sofas hinter dem ovalen Tisch, auf dem eine blinde
Glasflasche mit Wasser und zwei Gläsern stand.
.Ihre kleine Handtasche lag auf dem Stuhl neben ihr.

Bei Leos Eintritt sprang sie auf und kam ihm
entgegen. „Wie gut, daß Sie gleich zu mir kommen!"
sagte sie mit sichtlicher Erleichterung. „Ich bin
so heiß und müde. Sie werden mir Helsen, Leo
- ja?"
Er nahm die kleinen Hände, die sie ihm hinhielt,
fest in seine. „Aber Ines, wie konnten Sie so fort-
laufen!" sagte er vorwurssvoll. „Der weite Weg!
Warum schickten Sie nicht nach mir? Sie wissen
doch, daß ich sofort nach Rotenwalde gekommen
wäre!"
„Ja, ja — aber das half nichts. Ich will nicht
mehr in Rotenwalde bleiben."
„Was hat's denn gegeben zwischen Ihnen und
dem Vater?"
Sein Herz fing an schneller zu klopfen vor freu-
diger Erregung, daß Ines bei ihm Schutz suchte.
Freilich, außer ihm kannte sie eigentlich keinen
Menschen, denn ihre Beziehungen zu Heilwig
waren noch lose geblieben.
Ines schob ihren Hut weiter aus ihrem heißen
Gesicht zurück. „Mein Vater verbot mir schon
vor längerer Zeit, mit Muriel zu korrespondieren,"
klagte sie. „Natürlich tat ich es trotzdem. Das
merkte er und machte mir eine abscheuliche Szene.
Meinen Brief, den ich gerade dem Postboten geben
wollte, zerriß er. Oh, er ist ein ungebildeter Mensch,
kein Gentleman."
„Und nun soll ich mit dem Onkel sprechen und
ihn besänftigen? Gern. Ich werde sofort den
Krümperwagen für uns bestellen, dann fahren wir
zusammen nach Rotenwalde. Das ist ja alles nicht
so schlimm. Der Onkel wird schon mit sich reden
lassen," tröstete Leo.
„Nein — das will ich nicht!" widersprach Ines
heftig. „Ich sagte Ihnen doch, daß ich nie nach
Rotenwalde zurückgehe. Ich wollte Sie um Geld
bitten, Leo."
„Um Geld? Natürlich steht alles, was ich be-
sitze, Ihnen zur Verfügung. Wollen gleich mal
sehen, was ich bei mir habe."
Leo verbarg sein Staunen über das seltsame
Anliegen, indem er den Inhalt seiner Geldtasche
auf den Tisch schüttete und die darin befindlichen
Goldstücke Ines hinschob.
„Danke." Sie streckte ihre Hand nach dem Geld
aus, zog sie aber wieder zurück. „Reicht das auch
zu einer Reise nach London?"
„Kaum. Aber natürlich kann ich Ihnen ver-
schaffen, was Sie brauchen — vorausgesetzt, daß
Sie nicht beabsichtigen, damit heimlich, ohne die
Erlaubnis Ihres Vaters abzureisen."
„Gerade das will ich. Sie dürfen mich nicht ver-
raten."
„Dazu kann ich die Hand nicht bieten, Ines."
„Lassen auch Sie mich im Stich?"
Der verzweifelte Ton ihrer Stimme schnitt ihm
ins Herz. Er beugte sich nieder und küßte die kleinen
Hände, die sie bittend um seinen Arm faltete.
„Ich kann es doch nicht länger aushalten!"
fuhr Ines fort. Sie bemerkte seine weiche Stim-
mung und ihren Vorteil sehr gut. „Zu unglücklich
fühle ich mich, krank vor Heimweh bin ich, vor Sehn-
sucht nach Muriel. Bin ich denn ganz abhängig
von meinem Vater? Ich besitze eigenes Vermögen,
das weiß ich von Tante Mary Clarke. Aber der
Vater wurde wütend, als davon die Rede war, und
behauptete, er allein habe darüber zu verfügen,
bis ich mündig sei oder mich verheirate. Ist das
richtig?"
„Vom juristischen Standpunkt aus — ja. Vom
moralischen wäre er meiner Ansicht nach verpflichtet,
Ihnen jetzt schon die Zinsen wenigstens auszu-
zahlen."
„Das will er nur tun, wenn ich verspreche,
nichts von dem Geld für die Frauenbewegung aus-
zugeben. Das kann ich natürlich nicht versprechen.
Wie hilflos sind wir Frauen doch den Männern aus-
geliefert! Alle Gesetze dienen nur dazu, uns zu
knebeln und zu beschränken!"
Leo war dieses Themas bereits etwas müde.
„Wir wollen uns jetzt nicht über das Wahlrecht
unterhalten," meinte er, „sondern einen vernünfti-
gen Entschluß fassen. Seien Sie verständig, Ines,
kommen Sie mit mir zurück."
„Nein." Sie nahm das Geld vom Tisch. „Bis
Hamburg reiche ich damit. Dort kann ich Schmuck
versetzen und die Überfahrt nach London bezahlen."
Jetzt lachten ihre Augen ihn an. „Oh, wieder auf
einem Schiff zu sitzen, Seeluft zu riechen und zu
wissen, jede Umdrehung der Schraube bringt dich
der Heimat und Muriel näher!" In ihrem Ent-
zücken ergriff sie seine Hand. „Oh, wie danke ich
Ihnen, daß Sie mir dazu verhelfen!"
Das Alleinsein mit dem schönen Mädchen, ihre
liebkosende Berührung brachten Leos Selbstbeherr-
schung ins Wanken. Er legte den Arm um Ines'
Taille und zog sie an sich. „Liebe, geliebte kleine

Ines!" sagte er zärtlich. „Ihren Wunsch, Sie
heimlich nach England entfliehen zu lassen, kann
ich beim besten Willen nicht erfüllen, aber einen
Ausweg aus diesem Konflikt gibt es. Wenn Sie
den einschlagen, können Sie mit Ihrer Freundin
korrespondieren, soviel Sie wollen, und sollen auch
in kurzer Zeit Ihr geliebtes England Wiedersehen."
Sie sah ihn fragend an.
„Wenn Sie jetzt heimlich abreisen," fuhr Leo
in überredendem Ton fort, „so hat Ihr Vater das
Recht und die Macht, Sie mit Gewalt zurückbringen
zu lassen. Sie sind minorenn und können noch nicht
frei über sich verfügen. Bis zu dem Zeitpunkt,
da Sie mündig werden oder sich verheiraten, kann
Ihr Vater Ihnen Ihr Geld vorenthalten und auch
über Ihren Aufenthaltsort bestimmen."
„Empörend ist das!" Sie stand so dicht neben
ihm, daß er fast ihren Herzschlag zu hören ver-
meinte und die Tränen in ihren dunkelblauen Augen
schimmern sah.
Und ehe er selber wußte, wie es kam, lag sein
Mund auf dem ihren. Mit heißen Küssen verschloß
er ihr die Lippen, die sich zu einer heftigen Rede
über die mißhandelten Frauen öffnen wollten.
„Ines, ich liebe dich ja! Ich glaube, vom ersten
Augenblick an habe ich dich geliebt!" sagte er. „Wenn
du mich heiratest, verspreche ich dir, daß wir unsere
Hochzeitsreise nach England machen und du deine
Freundin Muriel einladen und mit ihr korrespon-
dieren kannst, soviel du willst."
Sie zog die Stirne kraus, ohne zu antworten.
„Zwei ewig lange Jahre dauert es noch, bis ich
majorenn werde," seufzte sie endlich. „Und so
lange soll ich England und Muriel nicht sehen?"
Seine Küsse schien sie kaum zu beachten. Sie
wandte nur den Kopf ungeduldig zur Seite.
„Ja, und auch dann würden noch viele Kämpfe
und lästige Auseinandersetzungen bevorstehen. Ich
glaube, solange ein Mädchen unverheiratet ist, kann
der Vater verhindern, daß sie ins Ausland geht,
jedenfalls das Geld, das im Gut steckt, zurück-
halten."
„Also nur, wenn ich heirate, bin ich ganz frei?"
„Nun das wohl nicht gerade." Er mußte über
ihre Naivität lächeln. Welch ein originelles Ge-
misch von Kindlichkeit und Frühreife sie doch war!
„Wir würden uns gewiß leicht über diese Frage
einigen, Ines. Zum Haustyrannen habe ich gar
keine Anlage. Frage nur Heilwig. Wenn wir jetzt
Onkel Helmut als Brautpaar gegenüberträten,
würde ihn das schnell versöhnen. Auch kann er
meiner Braut nicht mehr verbieten, ihrer besten
Freundin unsere Verlobung mitzuteilen."
„Gut. Wenn's wirklich nicht anders geht, will
ich Sie heiraten. Aber nur, wenn Sie mir versprechen,
mich nach England reisen zu lassen."
„Doch nicht sür immer?"
„Wenigstens für eine Zeitlang, um Muriel zu
sehen und —"
„Unsere Hochzeitsreise soll nach England gehen.
Das versprach ich ja bereits."
„Dann wollen wir doch recht bald heiraten!"
Er mußte wieder lächeln. Aber gleich darauf
durchzuckte ihn ein leises Reuegefühl. Beging er
nicht ein Unrecht an ihr, daß er ihre Lage, ihren
Streit mit dem Vater ausnützte, um sie seinen
Wünschen gefügig zu machen? Wenn er aber be-
dachte, wie unglücklich sie in Rotenwalde war, wie
peinlich die fortgesetzten Kämpfe mit dem geizigen,
eigensinnigen alten Mann waren, dann mußte er sich
doch sagen, daß eine Heirat mit ihm die beste, leich-
teste Lösung aller Schwierigkeiten sei. Wie sollte sie
auch, wenn der Vater starb, Rotenwalde bewirt-
schaften, das sie den Lehensbestimmungen nach
nicht verkaufen durfte! Sie glücklich zu machen,
würde sein eifrigstes Streben sein. Und wenn sie
ihn auch heute noch nicht liebte, so konnte sie das
doch lernen, wenn sie seine Frau war.
„Komm, Liebchen, wir können unmöglich hier-
nach länger allein zusammen bleiben!" bat er. „Sei
verständig und fahre mit mir."
„Ja, gehen kann ich keinen Schritt mehr!"
Ines kämpfte mit Tränen. Jetzt fühlte sie erst,
wie müde und erschöpft sie war. Eine förmlich
niederziehende Traurigkeit lähmte ihre Wider-
standskraft und Entschlußfähigkeit. Verdrossen schob
sic Leo das Geld wieder zu. „Da — ich komme ja
doch nicht fort!" Ein paar Tränen liefen über ihr
Gesicht.
„Aber Kind, du sollst ja nach England. Wir
müssen nur erst heiraten. Siehst du das ein? Bist
du einverstanden?" bat er.
„Ja — ja."
Das klang sehr müde und gleichgültig.
Leo küßte ihr tränennasses Gesicht. „Du sollst
es nie bereuen, mir vertraut zu haben, JneS."
Er ging nach der Tür, um deu Krümperwagen
zu bestellen.
 
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