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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0103

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II. Grössere Ausbreitung und Streben nach freier Entwickelung, von Ol. 60—80. 99

von conventioneilen Formen zu einer schärferen Berücksichtigung der natürlichen
Verhältnisse zurückkehrte. Gerade je länger die ersteren damals gegolten
hatten, um so grösser war die Gefahr der Ausartung, und in der That finden
wir theils in wirklich alten, theils in nachgeahmt aiterthümlichen Werken
Uebertreihungen mannigfacher Art: die fleischigen, muskulösen Theile zeigen
eine übermässige Fülle und Rundung, die Gelenke und Extremitäten dagegen
eine gesuchte und an Ziererei streifende Zartheit und Schlankheit. Solchen
Erscheinungen gegenüber begreifen wir leicht, wie ein damaliger Künstler auch
ohne eigentliche Theorie und Reflexion einzig durch eine unbefangene Be-
obachtung der Natur einer richtigeren Auffassung Eingang zu verschaffen im 139
Stande sein musste. Waren aber auch die symmetrischen Verhältnisse strenger
beobachtet, so blieb doch für die Vervollkommnung der Eurythmie noch ein
"weiter Spielraum; wir verweisen nur auf die aeginetischen Statuen und den
Krieger des Aristokles, deren genauere Vergleichung auch in dieser Beziehung
vielfach lehrreich sein würde. Um aber das Verdienst des Pythagoras gerade
lri dieser Beziehung richtig zu würdigen, ist uns jenes epigrammatische Lob
von grosser Wichtigkeit, welches seinem hinkenden Philoktet ertheilt wird: dass
"er Beschauer den Schmerz der Wunde mitzufühlen glaube. Auf den ersten
Blick mag es scheinen, dass es dabei vorzüglich auf den Ausdruck des Schmerzes
lrn Gesicht angekommen sein müsse. Allein der Schmerz einer Fusswunde muss
sich zunächst am Körper selbst äussern. Denn wo, wie hier, ein seiner Natur
nach wesentlich zum Tragen bestimmtes Glied gelähmt ist und der Schonung
bedarf, da muss nothwendig auch die natürliche Harmonie in der Bewegung
aller andern Glieder zerstört werden. Dafür aber bietet die Wunde wieder ein
einheitliches Motiv für eine neue bedingte Harmonie, indem sie auf jede Be-
wegung als bestimmende Ursache wirkt. Diese Wirkung aber ist es, welche
dem Beschauer eindringlich vor die Augen treten muss, wenn er die Grösse des
Schmerzes wirklich ermessen und sich dadurch zum Mitleiden angeregt fühlen
soll. Hier hat also der Künstler vorzugsweise eine Aufgabe der Rhythmik zu
lösen: er muss durch rhythmisches Stimmen aller Bewegungen nach dem einen
gegebenen Grundmotive, aus der Disharmonie, welche dasselbe zunächst erzeugt,
eine neue in sich einheitliche und abgeschlossene Harmonie entwickeln. Die
Voraussetzung für die Lösung dieser Aufgabe bildet aber ein richtiges Verständ-
nis des menschlichen Organismus überhaupt, des Grundverhältnisses aller Theile,
sowie der Wechselwirkung, die sie unter gegebenen Verhältnissen auf einander
ausüben; und dies ist nichts anderes, als was Diogenes durch Symmetrie und
Rhythmus bezeichnet.

Wir wenden uns jetzt zu den Lobsprüchen, welche Plinius dem Pythagoras
Wegen verbesserter Bildung einzelner Theile zuerkennt: dass er zuerst Nerven
Urid Adern ausgedrückt und das Haar sorgfaltiger behandelt habe. Den Aus-
druck Nerven dürfen wir natürlich nicht in dem strengen Sinne auffassen, welcher
heute dem Worte eigen ist: denn Nerven treten kaum irgendwo sichtbar an die 140
Oberfläche des Körpers, welche darzustellen die Aufgabe des Bildners ist. Frei-
lich werden wir auch die weiteste Bedeutung ausschliessen müssen, welche es
nicht geradezu verbieten würde, selbst die Muskeln darunter zu begreifen; da-
gegen spricht schon die Verbindung mit den Adern, durch welche wir auf feinere,
 
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