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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0104

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Die Bildhauer.

weniger als Masse hervortrende Theile hingewiesen werden. Wir verstehen da-
her das Wort von den Sehnen, oder richtiger anatomisch, von den sehnigen
Theilen der Muskeln, den Muskelansätzen, deren Funktionen namentlich an den
Gelenken in der grössten Mannigfaltigkeit sichtbar werden. Dass einzelne dieser
Sehnen, sowie einzelne Adern schon in älteren Kunstwerken angegeben waren,
ja bis zu einem gewissen Grade angegeben sein mussten, unterliegt keinem
Zweifel. Aber dennoch kann auch das primus expressit des Plinius seinen guten
Sinn haben, wenn Pythagoras es zuerst in durchgreifender Weise that, wenn
es bei ihm Regel ward, diese Theile in einer der natürlichen Erscheinung ent-
sprechenden Weise ins Einzelne auszubilden. Sein Verdienst endlich um die
Bildung der Haare erklärt sich von selbst, wenn wir an die Lückchen und
Flechten älterer Werke denken, welche Haare bedeuten, aber nicht eigentlich
darstellen.

Suchen wir nun alles bisher Bemerkte zu einem Gesammtbilde zusammen-
zufassen, so lässt sich bei Pythagoras zuerst nirgends das Bestreben verkennen,
sich von der Auctorität traditioneller Kunstformen zu befreien. Da dasselbe aber
bei den meisten seiner bedeutenderen Zeitgenossen der Fall sein musste, so
fragt es sich weiter, in welcher Richtung dieses Streben sich bei ihm äusserte,
welchen Weg er dazu einschlug? Antworten wir darauf, dass er die Natur im
Ganzen, wie im Einzelnen sich zum Vorbilde nahm und zu ergründen suchte,
so bedarf auch dieses noch der näheren Bestimmung. Eine feine Beobachtungs-
gabe legten wir auch dem Kaiamis bei, allein wir fanden, dass sie sich an
seinen Werken vorzugsweise durch einen verfeinerten Ausdruck, so weit derselbe
namentlich von Gefühl und Empfindung abhängt, bemerklich machte. Was an
Pythagoras gerühmt wird, bezieht sich dagegen auf grössere Vollendung der
Form. Erinnerten wir daher bei Kaiamis an Perugino und die umbrische Maler-
141 schule, so würden wir, um diesen Vergleich weiter zu verfolgen, bei Pythagoras
an den Florentinern und ihrer mehr naturalistischen Durchbildung der Form
eine kunstgeschichtliche Analogie finden. Doch müssen wir uns hüten, bei
Pythagoras schon an diejenigen Naturalisten zu denken, welchen wir diesen
Namen mit einer übelen Nebenbedeutung zu ertheilen pflegen, insofern sie nur
eine täuschende Nachbildung der Oberfläche der Körper mit allen ihren Zufällig-
keiten beabsichtigen. Mit diesen hat Pythagoras nur den Ausgangspunkt, das
Streben nach getreuer Naturnachahmung, gemein. "Es äussert sich bei ihm in
der Bildung der Haare, der Adern und Nerven. Aber bei der Beobachtung der
blossen äusseren Erscheinung blieb Pythagoras nicht stehen. Er erkannte, dass
schon das Hervortreten der Adern an die Oberfläche mit der Thätigkeit des
Körpers in engem Zusammenhang stehe, dass die Nerven, in dem oben an-
gegebenen Sinne als Theile der Muskeln, sogar einen wesentlichen Einfluss auf
die gesammte Bewegung ausüben. Dadurch musste sich ihm die Ueberzeugung
aufdrängen, dass eine wahrhaft naturgemässe Darstellung dieser Theile nur mög-
lich sei durch eine gründliche Erforschung ihrer gegenseitigen Verhältnisse, der
Gesetze ihrer Thätigkeit und ihrer Wechselwirkungen, d. h. durch das Studium
der Symmetrie und des Rhythmus. Und so gelang es denn in der That dem
Pythagoras, in seinen Werken dem Beschauer eine höhere, geläuterte Natur-
wahrheit zu zeigen, welche nicht nur den Sinn zu erfreuen, sondern auch, wie
 
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