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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0114

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110

Die Bildhauer.

erkennen will, während wir doch als das Hauptverdienst seiner Werke die lehens-
vollste Naturwahrheit erkannt haben. Wir zeigten, dass dieselhe auf der schärfsten
Auffassung aller Bewegungen nach ihren strengen organischen Gesetzen be-

155 ruhte. Gerade damit aher mochte eine grosse Zartheit und Weichheit minder
verträglich sein. Denn wenn freilich dem äusseren Sinne diejenige Behandlung
der Oherfläche des Körpers am meisten schmeicheln wird, welche die Schärfen
in den Uehergängen der Muskeln durch eine sorgfältige Berücksichtigung der
nicht lebensthätigen Haut und der darunter liegenden Fetttheile vermittelt und
ausgleicht, so verzichtete Myron vielleicht absichtlich auf diese Reize, um die
scharf abgegrenzten Wirkungen eines einzigen Augenblickes auf alle bei der
Bewegung betheiligten Glieder des Organismus ungeschwäobt zur Anschauung
zu bringen. Wie aber ein durch Süssigkeit verwöhnter Gaumen einen herben
Wein verachtet, so musste ein durch die Weichheit praxitelischer Gebilde ver-
wöhnter Kunstgeschmack an der Herbigkeit und Strenge eines Myron noth-
wendig Anstoss nehmen. Cicero selbst ist nicht ganz ohne Sinn für diese Vor-
züge der älteren Kunst, wie er denn z. B. seine Freude an dem punischen
Kriege des Naevius mit der an einem Werke des Myron vergleicht1). Aber
seinen Zeitgenossen gegenüber wagt er kaum die Kunst eines Polyklet als in
allen Beziehungen vollendet hinzustellen.

So hat sich uns denn aus diesen Betrachtungen ein ziemlich vollständiges
Bild der künstlerischen Individualität des Myron ergeben, bestimmt genug, uro
ihn von seinen Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern zu unterscheiden.
Unter denselben scheint ihm noch am meisten Pythagoras verwandt gewesen
zu sein. wie es schon der Wettstreit zwischen ihnen und das Vorwiegen ath-
letischer Bildungen bei beiden andeutet. Auch wegen der Symmetrie wird dein
einen, wie dem andern Lob gespendet; und mit Nachdruck haben wir auf die
Naturwahrheit in den Werken beider Künstler hinweisen müssen. Gerade hierin
aber zeigt sich, sobald wir dieselbe näher zu bestimmen suchen, eine Grund-
verschiedenheit in den Ausgangspunkten und Hauptrichtungen. Wir sprachen
unsere Ansicht dahin aus, dass Pythagoras von dem Studium einzelner Theile,
der Nerven, der Adern, des Haares ausgegangen, von der Betrachtung ihrer
äusseren Erscheinung aber auf die Erforschung ihrer inneren Natur, ihres Zu-

156 sammenhanges unter einander hingeleitet worden, und dadurch erst zur Er-
kenntniss der richtigen Verbältnisse und der rhythmischen Verbindung der Theile
gelangt sei: Myron scheint gerade den umgekehrten Weg eingeschlagen zu haben.
Die Vernachlässigung des Haares kann uns als Fingerzeig dienen, dass eine
blosse Nachahmung der Natur im Einzelnen für Myron nur geringen Werth
hatte. Bei ihm ist es immer der scharf abgegrenzte Moment der Handlung, aus
dem heraus sich das ganze Werk in allen seinen Theilen entwickelt. Zu diesem
Zwecke musste der Künstler von der Beobachtung der Natur in ihrer lebendigen,
bewegten Erscheinung ausgehen und im Stande sein, auch den flüchtigsten Mo-
ment in seinem Grundniotiv zu erfassen. Aber gerade je flüchtiger der Moment,
desto mehr war für die künstlerische Benutzung desselben eine tiefe Kenntniss
sowohl der Form an sich, als des Verhältnisses der Formen unter einander noth-

1) Brut. 19.
 
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