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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0115

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II. Grössere Ausbreitung und Streben nach freier Entwiokelung, von Ol. CO—80. 111

Wendig, um dadurch das Mangelhafte der Beohachtung zu ergänzen. Daraus
erklärt sich die Sorgfalt in der Symmetrie, daraus erklären sich auch die Epitheta
doctus und operosus, welche Statius») Und Ovid-) dem Myron beilegen. Den-
noch würde weder eine scharfe Beobachtungsgabe, noch eine gelehrte Geistes-
thätigkeit zur Herstellung so kühner, lebensvoller Gebilde hingereicht haben,
hätte nicht Beides einen Einigungspunkt in einer noch höheren Geistesthätig-
keit des Künstlers gefunden. Myron ist bereits frei von den letzten hemmenden
fesseln der früheren Kunstperiode und schafft aus der eigenen Phantasie. So
durfte er es sogar wagen, über den Kreis des unmittelbar Wahrnehmbaren bin-
loszugehen, und die Gesetze des physischen Organismus auf Gestalten anzu-
wenden, die in der Wirklichkeit nie existirt haben. Ich meine seine Seedrachen:
Wesen dieser Art können nur dadurch einen wahren, inneren Werth haben,
dass, wie Schorn 3) sagt, „der Beschauer sich von der Möglichkeit der Existenz
so organisirter Geschöpfe überzeugt fühlt, weil er einen in allen seinen Theilen
harmonischen Charakter vor sich hat . . . Solch eine Gestalt kann aber nicht
durch mühselige Berechnung zusammengesetzt werden — sie ist ein Geschöpf
der Phantasie und wird von ihr geboren wie durch Zauberkraft — aber die
Phantasie darf nicht in leeren Träumen spielen, sie muss genährt sein von Er- 1"
henntniss und Anschauung aller lebendigen Dinge."

So haben wir die Kunst in den verschiedensten Richtungen ihrer höchsten
Enlvickelung zueilen sehen. Gefühlvollerer Ausdruck zeichnete die Werke des
Kaiamis, naturgemässere Durchbildung der Form die Werke des Pytbagoras
Hus. Die Richtung des Myron können wir kaum anders als eine idealistische
nennen. Nur hatte es sein Idealismus nicht mit geistigen Ideen, sondern mit
körperlichen Kräften zu thun. Indem er aber den streng gesetzmässigen Wir-
kungen derselben auf den gesammten Organismus künstlerische Gestaltung ver-
lieh, musste er sich über die Zufälligkeiten der Wirklichkeit erheben und Ge-
nilde von einer höheren Wahrheit, man möchte sagen. Notwendigkeit schaffen.
Diese Eigenschaft aber ist es, welche ihnen auf den Namen von Idealen einen
gegründeten Anspruch verleiht.

Jetzt war nur noch ein Schritt zur höchsten Vollendung zu thun übrig,
hemlich: die erhabensten, göttlichsten Ideen der griechischen Welt in freien
Schöpfungen der Kunst zu verkörpern. Diesen Schritt wagt der gewaltigste
nnter den Zeitgenossen des Myron. Phidias.

l) silv. IV, G, 25. 2) A. A. III, 219.
 
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