Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0165

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
III. Diu griechische Kunst in ihrer nächsten geistigen Knhvickelung.

161

Ideal der Hera, ist es nicht Polyklet, dem wir dasselbe verdanken ? ist es nicht
ejn Ideal, auf welches Beschränkungen, wie sie Quintilian dem Polyklet gegen-
über macht: deest pondus, auctoritatem deorum non explevisse, keine An-
wendung finden? Allerdings, und ich will den Widerspruch nicht leugnen, in
dem sich hier die Zeugnisse des Alterthums und, auf dieselbe gestützt, auch
Wir uns zu befinden scheinen. Allein dennoch ist er nicht gross genug, um
alles bisher Gesagte umzustossen. Wir linden in den Urtheilen der Alten Po-
lyklet häufig dem Phidias zur Seite oder gegenüber gestellt. Bei Phidias
herrschte die Gewalt der Idee überall, und je höher die Idee, desto mehr war
das Werk davon erfüllt, während in minder erhabenen Aufgaben der Künstler
sich sogar mit geringerem Erfolge bewegte. Das Umgekehrte ist bei Polyklet
der Fall. Von dem rein Menschlichen ausgehend blieb seine Kunst, wenn auch
lfn schönsten Sinne menschlich; und nur ausnahmsweise ist es ihm gelungen,
Slch bis zur Idee der Gottheit zu erheben und ihr die ihrer Würde entsprechende
Gestalt zu verleihen. Die Hera des Polyklet lehrt uns daher nur, dass auch
eme, ich möchte sagen, kritisch-reflectirende Kunst in ihrer schönsten Entfaltung
sich wohl zuweilen zu einer freien idealen Production erheben kann, keines-
wegs aber, dass es ihr gegeben ist, diese Höhe stets und überall zu erreichen.

Es mag hier noch eine andere Erwägung Platz finden: ob nicht das Ideal
der Hera dasjenige ist, welches unter allen Götteridealen der ganzen Kunst-
Achtung des Polyklet noch am verwandtesten ist. Es ist das Ideal der Weib-
lichkeit in ihrer maassvollsten Entfaltung. Die Göttin ist nicht Jungfrau, nicht
Mutter, sie ist Frau, Gattin, und zwar im strengsten, ernstesten Sinne, sich
»leich bewusst ihrer Pflichten, wie ihrer Rechte, und deshalb von fast herbem
Charakter. Zwar ist sie auch Königin und Gemahlin des Zeus, jedoch an Ge-
walt und Macht ihm nicht gewachsen, Ehrfurcht gebietend vielmehr durch den
Emst der Weiblichkeit, als durch wirkliche Kraft: also ein Musterbild der ehr-
harsten Würdigkeit und der reinsten Frauenschönheit.

Im Allgemeinen bleibt also doch das Urtheil des Quintilian stehen, dass 230

Poly]

ilet ausgezeichneter in der Bildung der Menschen, als der Götter war, dass
Am für diese pondus, die Kraft, Gewaltiges zu schaffen, abging. Eben so wahr
hleibt es, dass der Kreis seiner Darstellungen eng gezogen war, dass er mit
Ausschliesslichkeit jugendlichen Bildungen sich zuneigte, und dass ihm jene
Vlelgestaltige lebendige Naturwahrheit fehlte, welche Myron der Wirklichkeit
augelauscht hatte. Wenn trotzdem das Alterlhum seinen Ruhm neben dem des
Phidias verkündigt, so dürfen wir eine zweite Eigenschaft nicht übersehen,
Welche Quintilian ihm neben dem decor ausdrücklich beilegt, diligentia, Sorg-
samkeit in der Ausführung. Zur Erläuterung dieses Lobes kann uns ein Aus-
bruch dienen, welcher dem Polyklet selbst in den Mund gelegt wird, dass
öe»ilich das Werk dann am schwersten werde, wenn der Thon (das Thonmodell)
his zum Nagel (bis zur Bearbeitung mit dem Nagel der Hand) gekommen seil).
l-'as Lob des Quintilian bezieht sich also auf die feinste Vollendung und Durch-
hildung, welche, nicht zufrieden, alle Verhältnisse aufs genaueste bestimmt zu
haben, auch auf die reinste Darstellung jeder Form im Einzelnen bedacht ist.

En

*) Plut. Symp. II, 3; de profect. in virfc. c. 17.

Brunn, Geschichte der griechischen Künstler. 1. Aull. 11
 
Annotationen