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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0237

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III. Die griechische Kunst in ihrem Streben nach äusserer Wahrheit.

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Sellen wir uns jetzt weiter unter den Werken des Skopas um, so würden
namentlich die Niobiden einen Beleg für die Richtigkeit unserer Beurtheüung
abgeben können, sofern sich hier schon die Gründe entwickeln Hessen, weshalb
w'r sie lieber diesem Künstler, als dem Praxiteles beizulegen geneigt sind. In
minderem Grade werden wir ein pathetisches Element bei den Erinyen in Athen
voraussetzen dürfen. Denn wenn auch Pausanias sagt, es sei nichts Schrecken-
erregendes an ihnen zu sehen, so scheint dies doch dem Zusammenhange nach
nur auf äussere Attribute, z. B. die Schlangen, welche Aeschylus ihnen beilegte,
nicht aber auf den geistigen Charakter dieser düsteren und furchtbaren Güttin-
nen bezogen werden zu müssen. Endlich wollen wir hinsichtlich des palatini-
schen Apollo daran erinnern, dass die Alten poetische Begeisterung für eine
Art Wahnsinn ansahen; und dass sich, dem entsprechend, in vielen der uns
erhaltenen Bildungen des Apollo Citharoedus eine gewisse Schwärmerei aus-
spricht, für welche Skopas in seinem Werke das erste Muster aufgestellt haben
mochte. — Doch nähern wir uns in diesen Werken bereits dem Punkte, in
welchem die pathetische Richtung sich mit der früheren ethischen fast zu be-
rühren . oder von ihr höchstens nur noch durch eine erhöhte, reizbarere Sinn-
lichkeit zu unterscheiden scheint. So wird z. B. in der von Skopas zuerst ent-
kleideten Aphrodite, in Eros. Potlios, Himeros das Liebesverlangen in seinen
zarteren Abstufungen dem Beschauer vor Augen getreten sein. Eine Hestia
dagegen konnte nach der Aulfassung der Alten nur ein Bild der reinsten. in
sich sichersten und abgeschlossensten Sittlichkeit sein. Es ist nicht nöthig, hier
noch weiter in Einzelnheiten einzugehen. Denn schon jetzt muss sich uns die
Frage aufdrängen: ob sich nach diesen Betrachlungen in den Kunstleistunyen
des Skopas noch ein einheitlicher Grundcharakter erkennen lasse?

Wir werden diese Frage nicht beantworten dürfen, ohne den Zustand der 333
Entwickelung zu berücksichtigen, zu welcher die Kunst in Skopas Zeit bereits
vorgeschritten war. Phidias hatte, von manchen technischen und formellen
Wögen abgesehen, auf dem Gebiete des Geistigen und Idealen keine Vorgänger:
er durfte also überall nur seinem künstlerischen Genius folgen, ja er musste
überall etwas wesentlich Neues schallen. Nach ihm und durch ihn fand aber
Jeder Künstler schon etwas Gegebenes vor; und selbst ein Skopas, wenn ihm
Aufgaben geboten wurden, deren geistige Lösung in den Werken eines Phidias
schon vorlag, konnte daher nicht umhin, seine eigene künstlerische Individualität
gewissermassen zu vergessen und als ein Nachahmer oder Nachfolger des Phidias
zu erscheinen. Doch werden wir auch hier dem Skopas das Verdienst nicht
absprechen dürfen, das Ideal mancher Göttergestalten, welche zu seiner Zeit
noch wenig durchgebildet waren, erst unwandelbar festgestellt zu haben. Die
wirkliche Eigenthümlichkeit des Künstlers werden wir indessen nur da zu suchen
nahen, wo seine Aufgaben eine von der früheren Zeit verschiedene Auffassung
zulassen, oder die Aufgaben selbst wesentlich verschieden sind. Dies war zu-
erst da der Fall, wo er den bisherigen Kreis der Darstellungen bedeutend er-
weiterte, namentlich wo er einzelnen Göttern einen Kreis von Begleitern zuge-
sellte. Ihre tiestalten mussten, wie die gesammte Tonleiter aus einem Grund-
ton, aus dem Wesen und Charakter der einen Gottheit einheitlich entwickelt
werden. Aber hier galt es nicht mehr, das Ideal derselben in seiner Ruhe und,
 
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