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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0238

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234

Die Bildhauer.

ich möchte sagen, Ahstraction festzuhalten, sondern vielmehr, es psychologisch
aufzulösen, die verschiedenen in ihm ruhenden Kräfte und Eigenschaften in
ihren Aeusserungen. in Bewegung zu zeigen. Hier waren denn auch die Keime
zu einer pathetischen Auffassung in reichem Maasse gegeben ; und die Werke
des Skopas zeigen uns, dass er nicht nur dieselben, wo er konnte, benutzte,
sondern dass er gerade da, wo er es that, am meisten als eigentümlicher und
selbständiger Künstler erscheint. Doch muss hier zum Schluss der Gegensatz,
in welchen er dadurch zur früheren ethischen Kunst trat, noch etwas genauer
begrenzt werden. Wie sehr er sich der letzteren in vielen seiner Schöpfungen
näherte, ist bereits erörtert worden. Es fragt sich daher vielmehr, wie weit er

334 sich von ihr entfernte. Vollkommen klar werden wir darüber freilich erst dann
urtheilen können, wenn wir das Pathos der späteren Zeit, welches ich hier kurz-
weg das dramatische nennen will, genauer kennen gelernt haben werden.
Blicken wir indessen auf Hauptwerke des Skopas, wie die Meergötter, die Mae-
nade, so kann uns die Erscheinung wenigstens nicht entgehen, dass das Pathe-
tische bei ihm, wie lebendig es sich auch äussern mag, doch immer mehr in
dem inneren Wesen der dargestellten Geschöpfe, als in der einzelnen Handlung
zu suchen ist, dass dieses Pathos also gewissermassen das ij-d-tx;, den ursprüng-
lichen Charakter derselben bildet, in sofern die Afficirung der Seele durch
Leidenschaft oder Sehnsucht bei ihnen zu etwas Stetigem, ihr ganzes Wesen
Erfüllendem, also zu ihrem, wenn auch nicht normalen, doch am häufigsten
wiederkehrenden Zustande geworden ist.

Erst jetzt wird es gestattet sein, über die technische und formelle Seite
der Kunst des Skopas einige Vermüthungen auszusprechen. Denn ausdrückliche
Zeugnisse darüber fehlen uns; und es bleibt uns daher fast nur übrig, aus der
Natur der dargestellten Gegenstände Schlüsse zu ziehen. Dass ein Werk, wie
die Maenade, die vollste Kenntniss des menschlichen Organismus voraussetze,
wurde schon bemerkt. Wenn nun dieselbe auch ohne eine vorzügliche Aus-
führung des Einzelnen durch die gelungene Auffassung des Ganzen von grosser
Wirkung hätte sein können, so hindert uns doch an der Behauptung, dass es
in diesem Falle so gewesen wäre, theils das in der Beschreibung des Calli-
stratus enthaltene Lob, theils die Berühmtheit des Künstlers überhaupt. Wir
glauben daher wohl zu thun, ein Werk zur Vergleichung herbeizuziehen, welches
wenn es auch nicht direct auf Skopas zurückgeführt werden darf, doch am besten
deutlich machen wird, welche Art der Ausführung wir bei diesem Künstler vor-
aussetzen dürfen: die Niobide des Museo Chiaiamonti1 >. Auch in ihr herrscht
die grösste Bewegung; und sie wird wie vom Sturme, nicht der Leidenschaft,
sondern der Verzweiflung fortgetrieben. Die Ausführung ist vorzüglich, wie in
wenigen anderen Werken. Worauf aber beruht in der Hauptsache diese Vor-

335 trefflichkeit? Wiederum nur auf der Hingebung des Künstlers, der sich durch-
aus darauf beschränkt, das naturgemässe Walten der Kräfte der Bewegung zu
verkörpern. Denn es Hesse sich unschwer nachweisen, wie hier jede Falte des
Gewandes durch das Grundmotiv der gesammten Bewegung, durch die Natur
des Stoffes, und durch die Körpeiform, von welcher sie sich ablöst, ihre bestimmte

>) Mus. Chiar. II, 17.
 
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