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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0254

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250

Die Bildhauer.

wie um diesen Gegensatz der Kunst eines Skopas und Praxiteles recht offenbar
zu machen, auf einem und demselben Monumente vereinigt erscheinen. Den
Ausdruck Diodors1;, Praxiteles habe dem Steine rd rrje; 4>i>/'Jg n&d-i] bei-
gemischt, werden wir hiernach nicht in seinem strengsten Sinne gelten lassen
dürfen. Richtiger bezeichnet Plinius, worin das innerste Wesen aller dieser
Gestalten des Praxiteles beruhe, wenn er sagt, in den Bildern der Matrone und
der Buhlerin habe der Künstler diversos affectus ausgedrückt. Denn die Affecte
scheiden sich nach Quintilian 2) in zwei Klassen: einerseits nemlich sei affectus
die treffende Uebersetzung des griechischen nd^og, andererseits erscheinen sie
dem ?J#c>c verwandter und könnten als mores, oder besser als morum quaedam
proprietas bezeichnet werden. Gautiores voluntatem complecti quam nonüna
interpretari maluerunt: affectus igitur hos concitatos, illos mites atque compo-
sitos esse dixerunt; in altero vehementer commotos, in altero lenes: denique
hos imperare. illos persuadere; hos ad perturbationem, illos ad benevolentiam
praevalere. Diese milderen Affecte, welche hier tieschildert werden, bezeichnen
357 vollkommen das Wesen praxitelischer Kunstgebilde. Es sind mehr Stimmungen
als Leidenschaften, welche hier verkörpert erscheinen: Stimmungen, welche Ge-
fallen erwecken (ad benevolentiam praevalere), sich beim Beschauer einschmeicheln
(persuadere) sollen, und daher vorzugsweise geeignet erscheinen, den mensch-
lichen Körper in der anmulhigen und reizenden Erscheinung zu zeigen, auf
welche Praxiteles mit Vorliebe die Mittel seiner Kunst verwendete.

Hier endlich ist der Ort, der Streitfrage des Atherthums nochmals zu ge-
denken, ob die Niobiden ein Werk des Skopas oder des Praxiteles waren. Eine
bestimmte Entscheidung dürfen wir freilich den Zweifeln des Alterthums gegen-
über uns nicht anmassen, wohl aber eine Vermuthung wagen, nachdem wir für
eine Unterscheidung des Wesens beider Künstler festere Gesichtspunkte ge-
wonnen haben. Was ihnen gemeinsam war, ist bereits angedeutet worden.
Sie auch sonst zusammenzustellen, bot besonders auch die seit Phidias gänzlich
veränderte Auffassung des gesammten Lehens hinlängliche Veranlassung. Sie
sind ein Bild derselben, wie Phidias der seinigen, und schaffen für Griechen-
land die Götter nach der Anschauungsweise dieser Zeit. Aber Skopas erscheint
in höherem Maasse mit einer lebhaften Phantasie begabt, von poetischer Be-
geisterung geleitet; seine Gestalten zeigen mehr das Abbild eines,lebhaft, in
seinem vollen Ganzen erfassten Gedankens, welchem die Form willig folgen
muss: daher er auch im Stande war, den wandelbaren Moment einer auf das
Höchste gesteigerten Leidenschaft zu erfassen und festzuhalten. Praxiteles hin-
gegen richtete seine Aufmerksamkeit zunächst auf die Erscheinungen des Körper-
lichen und suchte aus ihnen zu entnehmen, was den Sinnen gefällig und an-
genehm, Reiz und Anmuth hervorzubringen im Stande war. Heftige Leiden-
schaften , tragische Geschicke bewirken aber gerade das Gegcntheil hiervon.
Sie regen auf; und wie sie den Geist in hohe Spannung versetzen, so müssen
sie das ruhige Behagen des Körpers zerstören: der Körper muss von der Leiden-
schaft, dem ndd-ug überwältigt werden. Das aber ist es gerade, was wir an
den noch erhaltenen Statuen der Niobiden in so hohem Grade bewundern. Das

!) Exc. Hoesch. lib. XXVI, 1. 2) VI, 2. 8.
 
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